Mit Mut und Herz
Im vergangenen Jahr tauchten Briefe auf, die Milena Jesenská während ihrer Haft verfasste. Anhand der Schriftstücke erzählt Alois Prinz die bewegende Lebensgeschichte der tschechischen Journalistin
19. 10. 2016 - Text: Milena FritzscheText: Milena Fritzsche; Foto: Verlag Beltz & Gelberg
Sie ist abgemagert und verzweifelt. Ihre Gelenke schmerzen. Sie friert und ist einsam. Milena Jesenská gelingt es dennoch, im Juli 1940 einen Brief an ihren Vater und ihre Tochter aus dem Prager Gefängnis in Pankrác zu schmuggeln. Sie schreibt den beiden: „Meine Seele ist stumpfsinnig geworden. Weinen kann ich nicht mehr.“
Die Briefe, die Jesenská in den Jahren 1940 bis 1943 während ihrer Haft in Dresden, Prag und im KZ Ravensbrück verfasste, wurden im vergangenen Jahr entdeckt. Für Alois Prinz ein Anlass, die Lebensgeschichte der Journalistin und Kafka-Freundin neu aufzuschreiben. Der Schriftsteller hat sich als Verfasser der Biografien von Ulrike Meinhof, Hannah Arendt und Hermann Hesse bereits einen Namen gemacht. Für die Lebensgeschichte der RAF-Terroristin erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Auch dem Leben Kafkas hat sich Prinz bereits gewidmet. Insofern erklärt sich, dass er dem berühmten Schriftsteller im vorliegenden Band erneut eine große Rolle zuschreibt. Zumal Jesenská erst durch Kafkas „Briefe an Milena“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Sie gehören zu den schönsten Liebesbezeugungen der Literaturgeschichte. „Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe“, schrieb Kafka an seinen Freund Max Brod.
Prinz zeigt Milena Jesenská in seiner Biografie als eine eigenständige und unabhängige Person, die als Journalistin und Widerstandskämpferin Beachtung verdiente – auch ohne Bezug zu dem großen Namen.
Am 10. August 1896 wurde Milena Jesenská in Prag geboren. Sie rebellierte gegen die Erwartungen ihres Vaters und der Gesellschaft. Bald verkehrte sie in Prager Kaffeehäusern und traf auf die jüdische, vor allem männlich geprägte Schriftstellerwelt. Doch sie empfand die dort gepflegte Kultur zunehmend als „lächerlich“ und erkannte, dass im Kreis der Literaten reale Probleme oft ausgeblendet wurden. Während des Ersten Weltkriegs wollte sie helfen und war dabei so großzügig, dass sie sich verschuldete. „So verschwenderisch Milena in ihrer Hilfsbereitschaft war, so verschwenderisch war sie auch in ihren Gefühlen und ihrer Liebe“, schreibt Prinz.
1919 begegnete Jesenská zum ersten Mal Kafka und übersetzte seine Werke ins Tschechische. Sie begann zudem, selbst zu schreiben. Auch politische Texte wollte sie dabei „wie Liebesbriefe“ verfassen. Die konservative Leserschaft der Tageszeitung „Národní listy“ verschreckte sie mit ihren Vorstellungen von Emanzipation und Gleichberechtigung, auch bei der liberalen „Lidové noviny“ wurde ihr schließlich gekündigt. Mit den Kommunisten überwarf sich Jesenská, weil sie sich keiner Ideologie unterordnen wollte.
Liebe zu Prag
Prinz nennt Milena Jesenská konsequent beim Vornamen, als wäre sie eine gute Freundin. Bisweilen erinnert der Tonfall an die Biografie, die Jesenskás Tochter Jana Černá über ihre Mutter verfasst hat. Doch ganz so persönlich wird Prinz nicht. Er überzeugt vor allem mit einer gründlichen und umfassenden Recherche, die er mit ausführlichen Quellenangaben belegt.
Am 15. März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Prag ein. Jesenská verbrannte einige verdächtige Dokumente und das sowjetische Halstuch ihrer Tochter. Das musste als Vorsichtsmaßnahme reichen. Prag zu verlassen, konnte sich die 42-Jährige nicht vorstellen. Die Liebe zur Stadt war zu groß. Angst sei ihrer Meinung nach ein „Fluch“, der die Menschen daran hindere „stehen zu bleiben“. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern, wollte standhaft sein.
Jesenská beteiligte sich an einer von den Nazis verbotenen Zeitschrift. Zudem nahm sie in ihrer Wohnung in der Kouřimská-Straße im Stadtteil Vinohrady Juden und politisch Verfolgte auf. Sie versteckte sie dort, bis sie mit einem Fluchtauto außer Landes gebracht wurden. Schließlich wurde Jesenská des Hochverrats angeklagt. 1940 kam sie in das Frauenkonzentrationslager in Ravensbrück.
Im KZ war es ihre Aufgabe, medizinische Unterlagen zu verwalten. Es gelang ihr öfter, Blutproben zu vertauschen und somit kranke Frauen vor „Experimenten“ oder der Gaskammer zu bewahren. Um ihre eigene Gesundheit stand es nicht gut. An ihre Familie schrieb sie: „Ich brauche Wärme, Wärme, Wärme und mir ist kalt, kalt, kalt, ich friere wie ein junger Hund.“ Wenige Monate später, am 17. Mai 1944, starb Jesenská in dem Konzentrationslager an den Folgen einer Nierenoperation.
Prinz ist das lebendige Porträt einer mutigen und leidenschaftlich engagierten Frau gelungen, die ihren eigenen Weg ging und für andere Menschen ihr Leben riskierte. Sie war nicht unfehlbar und ohne Schwächen. Doch ihr Beispiel zeigt, dass Politik alle etwas angeht und jeder Einzelne in seinem Alltag für Mitmenschlichkeit eintreten sollte.
Alois Prinz: Ein lebendiges Feuer. Die Lebensgeschichte der Milena Jesenská. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2016, 240 Seiten, 17,95 Euro, ISBN 978-3-407-82177-5
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?