Mutige Kämpfer oder ängstliche Duckmäuser?
Protest und Aufruhr machten den 17. November zu einem Schlüsseldatum der neuesten Geschichte Tschechiens. Vor und nach der Samtenen Revolution jedoch mangelt es an Bekundungen von Zivilcourage. Eine mentalitätsgeschichtliche Spurensuche
13. 11. 2013 - Text: Ivan DramlitschText: Ivan Dramlitsch; Foto: Studenten protestieren am 17. November 1989 auf der Prager Nationalstraße/čtk
Nationale Stereotype können sich verändern. Je nach historischen Erfahrungen, deren Interpretationen sowie dem jeweiligen gesellschaftlichen Bedarf an Fremd- und Selbstbildern unterliegen sie einem Wandel. Deshalb ist es möglich, dass sich solche Stereotype widersprechen, ein Kollektiv sich also im Laufe der Zeit – oder auch gleichzeitig – völlig entgegengesetzte Eigenschaften zuspricht.
Auch Staatsfeiertage sind ein Mittel, um durch kollektives Erinnern nationale Eigenschaften zu pflegen. Am Sonntag gedenken die Tschechen zweier historischer Ereignisse, die die neueste Geschichte des Landes entscheidend prägten: Am 17. November 1939 wurden im Protektorat Böhmen und Mähren auf Geheiß Adolf Hitlers alle Universitäten geschlossen, neun Studentenführer im Prager Gefängnis Ruzyně hingerichtet und 1.200 Studenten ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Demonstrationen wie jene zwei Tage zuvor, bei denen dem von den Nazis erschossenen Studenten Jan Opletal gedacht wurde, sollten im Keim erstickt werden.
Am 17. November 1989 zogen Studenten friedlich durch die Prager Innenstadt, um an die Ereignisse von vor 50 Jahren zu erinnern. Auf der Nationalstraße wurden sie von Sicherheitskräften des Innenministeriums erwartet, die die Manifestation gewaltsam auflösten. Dieses Ereignis brachte eine Welle von Demonstrationen in Gang, die endlich auch in der Tschechoslowakei das Ende des kommunistischen Regimes herbeiführten und später unter dem Namen „Samtene Revolution“ bekannt wurde.
Erst friedfertig, dann feige
Bilder von Hunderttausenden kamen in die Welt, die auf dem Wenzelsplatz mit ihren Schlüsselbunden das Ende des repressiven Staatsapparats einläuteten und auf der Letná-Anhöhe ihrem Anführer zujubelten: dem unscheinbaren Schriftsteller Václav Havel, der seine bewegenden Reden mit einem Sprachfehler, einem fürs Tschechische viel zu weich ausgesprochenen R, vortrug. Das Bild der gewitzten und friedlich für ihre Freiheit kämpfenden Tschechoslowaken war geboren – ein Bild, das vor allem die Außenwahrnehmung der jungen Republik prägte und das in den kommenden zwanzig Jahren immer wieder durch die Bekundung zivilgesellschaftlicher Lethargie und Politikverdrossenheit gebrochen wurde. Wo haben sie sich verloren, die „samtenen Revolutionäre“? Oder waren es nur die Geschehnisse im Rest Europas, die die Tschechen 1989 auf die Straßen trieben? War das Stereotyp des zaudernden und zögernden Tschechen vielleicht das realistischere? Um sich einer Antwort auf diese Fragen zu nähern, lohnt ein Blick in die Vergangenheit.
In der frühen, oft kriegerischen und konfliktreichen Geschichte der Tschechen liegen die Wurzeln einer Tradition des Heldenhaften und Kämpferischen. Sie wird im Früh- und Hochmittelalter insbesondere von den kriegsfreudigen Fürsten und Königen aus dem Geschlecht der Přemysliden wie etwa Boleslav („der Grausame“), Soběslav oder Přemysl Otakar repräsentiert und findet ihren Höhepunkt in der Hussitenbewegung und ihrem legendären Heerführer Jan Žižka. Die Rückbesinnung auf diese „heldenhafte“ Geschichte war folgerichtig auch ein zentraler Topos der sogenannten Nationalen Wiedergeburt des 19. Jahrhunderts.
Interessant ist, dass zur gleichen Zeit ein gänzlich entgegengesetztes Stereotyp der Tschechen entsteht, das auf Johann Gottfried Herders Bild des friedfertigen Slawen zurückgeht. Von der ersten Generation der sogenannten nationalen Erwecker wird es dankbar aufgenommen und dient vor allem als Gegenentwurf zum vermeintlich kriegerischen Germanen. Allerdings erfährt diese ursprünglich positive Charakterzuschreibung im Laufe der Zeit einen deutlichen Wandel.
Das Friedfertige und Sanfte wurde zum Vorsichtigen, Ängstlichen, Schwachen bis hin zum Feigen. Die Liste der Autoren, die bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert dieses Bild mal mehr, mal weniger intensiv pflegten und tradierten, ist umfangreich: Als der Schriftsteller Jiří Mahen 1924 in seinem „Buch über den tschechischen Charakter“ aufzählte, was seit 1848 zu diesem Thema geschrieben wurde, brauchte er dafür zehn lange Kapitel um schließlich unter anderem festzustellen, dass Tschechen „Feiglinge sind, die Angst haben“.
Nationalpsychologischer Schlaganfall
Das Bild des zögernden und zaudernden Tschechen, der sich nicht einmischen will, der abwartet, bis alles vorbei ist, stellt bis heute einen festen (negativen) Bestandteil der nationalen Selbststilisierung dar. Die manifeste Wirkungsmächtigkeit dieses Bildes wird oft mit dem Verweis auf die Schlüsselmomente der tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert erklärt. Als besonders aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Münchner Abkommen von 1938 – denn dieses Ereignis ist in gewisser Weise gleichzeitig Ursache und Gegenbeweis für die These vom tschechischen Defätismus.
Das Münchner Abkommen wird in Tschechien bis heute als das historische und gleichzeitig traumatische Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts wahrgenommen – die demokratische Tschechoslowakei wird von den Verbündeten auf dem Altar einer naiven Appeasement-Politik geopfert. Die Frage, ob man sich damals hätte (militärisch) wehren sollen, wird nach wie vor diskutiert.
Eine historische Tatsache ist jedoch allemal, dass im Jahr 1938 von defätistischen Tschechen nicht die Rede sein kann – allenfalls von einer resignierten politischen Elite. Ein großer Teil der Bevölkerung – das legen die Quellen und Zeitzeugenberichte nahe – war bereit, für das Land in den Krieg zu ziehen, so aussichtslos dieser auch erscheinen mochte. Dass ihnen dies von der durch Edvard Beneš repräsentierten politischen Führung verwehrt wurde, ist nach dem Verrat durch die Verbündeten die zweite traumatische Erfahrung des Münchner Abkommens. Diese aufgezwungene Kapitulation ohne Kampf habe, so der Philosoph Jan Patočka, das „moralische Rückgrat der Nation gebrochen“. München und dessen Folgen sei einem nationalpsychologischen Schlaganfall gleichgekommen, an dessen Lähmungserscheinungen die tschechische Gesellschaft bis heute leide und der Grund, warum sie auch später, in den Jahren 1948 und 1968, versagt habe.
Das tschechische Muster
Betrachtet man die Ereignisse des Prager Frühlings, so ergeben sich erstaunliche Parallelen zur Krisensituation von 1938. Der Historiker Christian Willars meint sogar, darin ein „klassisches wiederkehrendes Muster“ der modernen tschechischen Geschichte zu erkennen, das folgenden Ablauf hat: Zunächst entsteht das Konzept einer „großen Idee“. Darauf folgt laut Willars der inkonsequente Versuch ihrer Umsetzung und die Konfrontation mit den Gegnern dieser „großen Idee“. Es folgen Kapitulation, Katastrophe und Neuanfang unter schlechteren Voraussetzungen.
Besonders bemerkenswert erscheint es, das genauso wie 1938 auch 1968 wiederum die politische Elite und nicht „das Volk“ kapitulierte. Ganz im Gegenteil: Mehr als 100 Opfer forderte der engagierte Widerstand gegen die Besatzer. Das widerspricht deutlich dem Bild des sich ängstlich wegduckenden Tschechen.
Dieser ist vor allem ein Produkt der siebziger und achtziger Jahre. In der bleiernen und repressiven Zeit der sogenannten Normalisierung nach dem Scheitern des Prager Frühlings ist den meisten Tschechen die Lust am Protestieren gründlich vergangen. Kennzeichnend für diese Zeit war ein allgemeiner Rückzug ins Private, in die Nische. Diese Tendenz wurde freilich vom Regime durch eine konsumorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik gefördert: Wer stillhielt, wurde belohnt.
Kein Mentalitätswechsel
Dieser Zustand der politischen Apathie war dabei in der Tschechoslowakei viel stärker ausgeprägt als etwa in Polen, Ungarn oder der DDR – und sie hielt länger an. Das zeigte sich auch 1989. Die großen Massendemonstrationen auf dem Letná-Berg fanden erst statt, als die Machtfrage (auch in den Nachbarländern) mehr oder weniger entschieden war – anders als beispielsweise die Leipziger Montagsdemonstranten, die schon auf die Straße gingen, als repressive Reaktionen der Staatsmacht noch möglich schienen.
Mit Blick auf die heute allgemein beklagte Politikverdrossenheit waren die Demonstrationen im Herbst und Winter 1989 nur ein kurzes Intermezzo. Zu einem Aufblühen der Zivilgesellschaft, zu einer Renaissance des engagierten Bürgers ist es nicht gekommen.
Das Desinteresse an Politik, an den „öffentlichen Angelegenheiten“, die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, das Primat des Privaten – das alles ist auch ein Erbe des Eskapismus in der Normalisierung. Insofern sind die sozialpsychologischen Folgen der siebziger und achtziger Jahre heute gesellschaftlich viel wirksamer und tatsächlich greifbar. Die Traumata des Jahres 1938 hingegen sind eher Gegenstand feuilletonistischer Betrachtungen.
Freilich: Anders als 1938 oder 1968 kam es 1989 nicht zur Kapitulation, sondern zum Systemwandel, zu einem „Happy End“. Zu einem tiefgreifenden Mentalitätswandel kam es jedoch nicht. Das ist ein langwieriger Prozess, der viel Zeit, guten Willen und Ausdauer erfordert. Und dennoch ist er für eine tatsächliche Veränderung der Verhältnisse notwendig. Denn sonst, so schrieb der ehemalige Dissident und spätere Politiker Petr Pithart bereits in den achtziger Jahren, „spielt sich das gleiche alte Stück lediglich in neuen Kulissen ab, mit neuen Hoffnungen und um so größeren Enttäuschungen.“
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten