Nachtasyl
Vom Leben in einer Prager Kneipe zu nachtschlafender Zeit
9. 1. 2014 - Text: Klaus HanischText: Klaus Hanisch; Foto: Paul Young
Dieser junge Mann mit den wirren braunen Haaren und dem Vollbart, der morgens gegen halb drei an der Theke noch ein frisches Pils bestellt – was wird er an diesem anbrechenden Tag wohl machen? Beziehungsweise eher nicht machen…
Doch das kann täuschen. Es gibt viele Menschen, die in Prag arbeiten, aber einige Kilometer außerhalb der Stadt wohnen. Manche ersparen sich die Heimfahrt, wenn es im Büro spät geworden ist, und verbringen die Nacht stattdessen in einer Prager Kneipe. Dort trinken sie einige Gläser Bier, schlafen dazwischen auf ihrem Stuhl und gehen morgens wieder zur Arbeit.
Einen von ihnen kenne ich persönlich. Er ist leitender Angestellter bei einem deutsch-schweizerischen Unternehmen. Sein Nachtasyl merkt man ihm später nur an seiner stinkenden Kleidung an, nicht jedoch an seiner Arbeitsleistung. Das ist von seinen Kollegen verbürgt.
Nicht auszuschließen also, dass auch der schlanke große Vollbart am Tresen schon in ein paar Stunden wieder irgendwo zu einem Leistungsträger wird. Vielleicht im Theater Komödie, das gleich um die Ecke liegt. Tatsächlich dreht und wendet er sich in seinem langen hellgrauen Mantel und dem bunten Schal um den Hals in der Gaststätte hin und her wie ein Schauspieler.
Oder ist er ein angehender Dramaturg? Für die „Kalich“-Bühne, die auch nicht allzu weit entfernt ist? Möglicherweise schreibt er an einem Stück über die Niederungen des Alltags und hat sich deshalb ausgerechnet diesen alten Mann fast ohne Zähne und mit nahezu ermatteten Brillengläsern als Gesprächspartner ausgesucht.
Ihre Unterhaltung an der Theke schwingt sich zu immer neuen Höhen auf, wenn der Alte den philosophischen Ausführungen des Jungen Weisheiten aus dem Bierglas entgegenhält. Zwischen ihnen und mir sitzt ein ziemlich dicker Mann vor einem Schwarzbier und einem rötlichen Schnaps. Seine an den Knöcheln zerrissenen Jeans und die verschmutzte Jacke lassen einen schwer arbeitenden Handwerker in ihm erahnen. Er lehnt mit dem Kopf gegen eine Wand und schnarcht in gleichmäßigem Rhythmus.
Hühnerauge und Tiger
Die Kneipe liegt auf halbem Weg zwischen Karls- und Wenzelsplatz. Zentral genug, um ihre Zapfhähne bis morgens um fünf am Laufen zu halten. Acht Tische bilden in einem engen winkeligen Schlauch den Gastraum, der in seiner Ausstattung ziemlich heterogen ist: Wandverkleidung, Stühle und Tische aus hellem Holz mit kleinen, manchmal aber auch zu großen dunkelroten Decken. Die Theke aus hellem Naturstein, darauf eine dunkle Holzplatte. Die Wände in der Farbe von Honigmelonen.
Hätte Jaroslav Hašek seine silbernen Uhren, die er als Lohn für einige Humoresken erhalten hatte, nicht schon vor einem Jahrhundert im Gasthaus „U kuřího oka“ („Zum Hühnerauge“) in Vinohrady verkauft, sondern hier und heute, dann wüsste man jetzt, wann genau die ältere Frau mit einem Dackel durch die Tür spaziert. Doch auch ohne Stundenanzeiger spaltet sie die Anwesenden unverzüglich in zwei Lager. Sollte längst schlafen, das Tier, meinen die einen. Andere kommen zu dem Schluss, der Hund sei wahrscheinlich der fitteste im ganzen Raum.
Damit tun sie dem Schankwirt Unrecht. Mit beachtlichem Tempo legt er selbst zu dieser Stunde noch Meter um Meter zwischen seinem Arbeitsplatz und den Tischen zurück. Er benötigt auch keine Bierstrichliste, die Bohumil Hrabal in seiner Stammkneipe „U Zlatého tygra“ („Zum goldenen Tiger“) in der Prager Altstadt gerne umknickte, während er gedankenverloren mit dem Bierdeckel zwischen seinen Fingern spielte.
Der Barmann weiß immer, wie viele Kronen er von jedem Gast verlangen muss. Was vorläufig jedoch nur bei der Frau mit dem Dackel von Belang ist. Der Anschuldigungen ob ihrer vermuteten Tierquälerei überdrüssig, verlässt sie das Lokal. Auch ein Mann in bestem Alter geht, allerdings auf die Toilette.
Dass so viele hier so lange bleiben, kann daran liegen, dass das Lokal ein gewisses Wohnzimmer-Flair ausstrahlt. Auf den Tischen zeugen Aschenreste vom immensen Zigarettenkonsum, das nächste Bier kommt ohne Bestellung, ein Fernsehgerät am Ende des Raumes zeigt fortwährend Sport, wird aber kaum beachtet. Und die Tischdecken dienen manchem männlichen Gast zuweilen als Ersatz für fehlende Handtücher auf der Toilette. So etwas würde sich keiner zu Hause trauen, weil er ernsthafte Differenzen mit seiner Ehefrau befürchten müsste.
„Date“ oder „hate“?
Während die meisten Anwesenden an der Theke oder einfach nur im Raum stehen, hat ein älterer Mann mit Halbglatze und unangenehm stechenden Augen bewusst den Tisch exakt in der Mitte des Lokals gewählt. Von dort beobachtet er mit schnellen Blicken alles und jeden zu beiden Seiten und schüttelt darüber immerfort den Kopf. Dazu bricht er manchmal in gurrendes Lachen aus, den Tauben nicht ungleich.
Dabei können in dem Trubel bestenfalls Gesprächsfetzen zu ihm dringen. Deutlich vernehmen kann er indes die Gruppe neuer Gäste, die in diesem Augenblick den Raum betritt. Sie stellen sich als Angestellte eines nahen Hotels heraus, die hier ihr Feierabendbier trinken wollen. Einer, Mitte 20, tritt aus dem Pulk und fragt mich etwas auf Englisch. Ich verstehe „date“ und frage nach, was er will. Er versteht „hate“ und fragt mich, warum ich ihn hasse.
Das dumme Missverständnis zieht die Stimmung nach unten. Um sie wieder zu entkrampfen, setzt sich eine Kollegin von ihm an meinen Tisch. Sie ist in seinem Alter und arbeitet an der Rezeption des Hotels. Auch sie ist erbost und zwar darüber, dass in Tschechien so wenig Geld in Umlauf sei. Das wahre Leben findet für sie deshalb in New Orleans statt, wo sie ein Jahr lang in einem Hotel arbeitete und viele Amerikaner sah, die dort die Nacht zum Tag machten.
Ich halte dagegen, dass sich Einheimische trotz geringerer Einkommen auch in Prag gerne zu nachtschlafender Zeit als Bettmeider gerieren. Zum Beispiel die Müßiggänger gerade in dieser Kneipe. Worauf die Rezeptionistin meinen Tisch verlässt und dabei noch stärker mit dem Kopf schüttelt als der Herr mit der Halbglatze.
Obwohl völlig harmlos, lässt dieser Zwischenfall einen jungen Lockenkopf nicht mehr unwichtig erscheinen, der am Klappbrett der Theke steht und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Security“ trägt. In diesem Sammelsurium an Menschen könnte ihm unversehens eine tragende Rolle zukommen. Allerdings ist das T-Shirt wohl nur Tarnung, weil er eher untersetzt als muskulös daherkommt. Deshalb geht der Mann meist dem Wirt zur Hand, wenn der ein Zwiegespräch mit einem Stammgast führen muss. Denn er ist die Respektsperson im Lokal. Und das nicht nur, weil er mit seiner Haartolle und dem länglichen Gesicht ein älterer Bruder des Schriftstellers Jaroslav Rudiš sein könnte.
Unter Stars und Sternchen
Gegen vier Uhr dreht er das Radio lauter. Ein Song der slowakischen Sängerin Katarína Knechtová dröhnt durch den Äther. Die erste Reihe an der Theke singt sofort aus vollen Kehlen mit. Dies ermuntert den vermeintlichen Rudiš-Bruder, das Gerät nun voll aufzudrehen. Plötzlich stürzt der Mann im besten Alter, der eine halbe Stunde vorher auf der Toilette verschwunden war und den die meisten längst zu Hause wähnten, in den Gastraum zurück. Das bringt den Gast am Spielautomaten für kurze Zeit völlig aus dem Konzept. Bis dahin hielt er sich an dem Gerät vor den Toiletten erstaunlich gut auf den Beinen. Wenn auch mit zunehmenden Schwankungsbreiten in alle Richtungen.
Auch der Schnarcher vor mir erwacht mit einem tiefen Seufzer und bestellt sofort ein neues Bier, obwohl sein Glas noch halbvoll ist. Und einen Sliwowitz. Kurz bevor die Bestellungen eintreffen, fällt sein Kopf wieder nach rechts gegen die Wand. Mit jeder Minute gehen Rauch und Rausch stärker ineinander über. Sind die Wände in dem Lokal tatsächlich farbig wie Honigmelonen? Ähneln sie nicht mehr Vanilleeis mit Erdbeerzusatz?
An einem Tisch etwas abseits erforscht ein junges Paar mit ernsten Mienen, ob es noch eine gemeinsame Zukunft für sie gibt. Ein älterer Gentleman in schickem Outfit wischt mit der rechten Hand ein paar Haare vom Pelzmantel seiner Frau und klopft ihr gleichzeitig mit der Linken stramm auf ihr Hinterteil. Dessen Nebenmann erzählt jedem mit wachsender Aufdringlichkeit, dass sein Freund vor Jahren eine olympische Goldmedaille gewonnen habe. Lockenkopf fasst ihn sicherheitshalber scharf ins Auge.
Ein größerer Mann mit grauem Bart und wenigen grauen Haaren betritt die Kneipe. Die Stimmen werden leiser. Der Neue – ja, er könnte der große Zdeněk Svěrák sein. Umso mehr, da er noch zu dieser Zeit sofort in einem E-Book zu lesen beginnt, nachdem er nahe am Hinterausgang Platz genommen hat. Ein Schauspieler seines Formats passt durchaus in diesen Rahmen. Die Wände sind voll von Schwarz-Weiß-Bildern mit Porträts von Schauspielern oder Filmszenen. Schräg gegenüber blickt der einstige Filmstar und Komiker Vlasta Burian aus brauner Einfassung auf den Kollegen Svěrák.
Wenn es Svěrák ist, dann ist das für die meisten okay, sofern er sie nicht beim Bier stört. Was Svěrák – wenn er es denn ist – auch nicht vorhat. Er liest geduldig Seite für Seite in seinem Computer. Es könnte ein Text von Rudyard Kipling sein. Ihn zu fragen, ob er tatsächlich Svěrák sei, verbietet sich. Genau wie man gefälligst unterlässt, sich bei dem jungen Dramaturgen danach zu erkundigen, ob er ein Dramaturg ist oder doch ein Schauspieler.
Gemeinsam einsam
Denn gerade jetzt genießt jeder in diesem Raum seine Freiheit, zu dieser späten (beziehungsweise frühen) Stunde in dieser Kneipe sein zu dürfen. Und deshalb sind hier in diesem Augenblick alle gleich. Käme Barack Obama, der gerne in Prag große Reden hält, nun zur Tür herein, so wäre sogar er ganz schnell einer von ihnen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Jeder ist sich zugleich der Nächste, mit seinen ganz persönlichen An- und Einsichten. So vermittelt diese Kneipe Nähe und Distanz zugleich. Und deshalb erzeugt sie bei manchem noch ein Stückchen mehr Einsamkeit. Trotz der vielen Menschen im Raum. Der Kopfschüttler könnte einer von diesen sensiblen Gemütern sein.
Es ist etwa halb fünf, als der Wirt plötzlich alle Türen des Lokals aufreißt. Wohl um seinen Feierabend anzukündigen. Diese Schnapsidee übt auf seine Gäste eine ernüchternde Wirkung aus. Einer glaubt, von draußen Vogelstimmen zu vernehmen. Kann es zwitschernde Vögel mitten im Winter geben? Dazu noch im Stadtzentrum? Plausibler wirkt die einsetzende Diskussion darüber, ob die Nachtlinien schon von den regulären Straßenbahnen abgelöst wurden. Dem Mann, der dies überprüfen will, knicken vor der Tür wegen der frischen Luft die Beine weg. Er kommt nicht mehr zurück. Andere, die sich ebenfalls auf den Weg machen, folgen deshalb mit großer Vorsicht. Nicht alle ohne fremde Hilfe.
War es nun Zdeněk Svěrák oder nicht? Man wird diese Frage morgen noch einmal erörtern. Besser gesagt: später. An gleicher Stelle. Wahrscheinlich zur gleichen Stunde.
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