Narben im Gebirge
Vor 25 Jahren wurde die Tschechoslowakei in zwei Staaten geteilt – eine Reise an Grenzen im Wandel
7. 1. 2018 - Text: Martin Nejezchleba
Das Mobiltelefon meldet keinen Grenzübertritt. Vom Ende des verschneiten Waldwegs zwischen Čierne und Hrčava ruft Petr Staňo grüßende Worte. Nach einem beherzten Händedruck stellt der Bürgermeister der östlichsten Gemeinde Tschechiens eine Frage: „Was halten sie von der internationalen Straßenverbindung in unsere Nachbargemeinde?“ Staňo redet Slowakisch und lächelt ironisch.
Wenn er seinen Sohn morgens in die Schule auf die slowakische Seite fährt, dann muss er 17 Kilometer Serpentinen hinter sich bringen. Das möchte er ändern. Eine neue, etwa zwei Kilometer lange Straße soll verbinden, was zusammengehört. Gemeint sind die Nachbargemeinden Hrčava und Čierne, die seit nunmehr 20 Jahren in unterschiedlichen Staaten liegen: in der Tschechischen und in der Slowakischen Republik.
Petr Staňos allradbetriebener Pick-up kämpft sich über vereiste Feldwege. Ein Klingelton mahnt unerbittlich zum Anschnallen. Er bleibt auf einer kahlen Anhöhe stehen, die in braunen Büscheln durch die dünne Schneedecke bricht. Der großgewachsene Tscheche zeigt auf einen Häuserhaufen: „Die Bürger von Hrčava haben sich 1921 über eine Petition vom polnischen Jaworzynka“ – Staňos Zeigefinger bewegt sich unmerklich nach rechts und deutet nun auf einen benachbarten Hügel mit Häuschen – „losgesagt und wurden Teil der Tschechoslowakei.“ Danach zeigt er ins Tal, in die Slowakei, in der sich mein Handy noch eine ganze Weile wähnen wird.
Grenzland sind die geschwungenen Hügel des Beskidengebirges schon lange. Eine Reihe von Befestigungsanlagen entlang der schlesisch-ungarischen Grenze wurde Ende des 16. Jahrhunderts als Schutzwall gegen die Osmanen errichtet. Staňo möchte die Schanzen aus dem Fichtenwald buddeln lassen und Touristen zugänglich machen.
In den Wirren der Weltkriege wechselte Hrčava einige Male die Staatszugehörigkeit. Dann wurde den Bauern von Jaworzynka aufgetragen, eine Schneise durch die Äcker der sozialistischen Bruderstaaten Polen und Tschechoslowakei zu pflügen.
Gruß statt Pass
Bürgermeister Staňo bringt seinen schwarzen Geländewagen an einer Weggabelung neben zwei modrigen Buden zum Stehen. „Die frühere Zollstation zwischen Polen und der Tschechoslowakei steht für den Kommunismus, als hier mit scharfer Munition auf Menschen geschossen wurde“, brummt der 39-Jährige. „Und dann kommt so ein merkwürdiger November, der alles lockert und die Leute in Euphorie versetzt. Nur damit ein paar Jährchen später eine noch schlimmere Grenze entsteht.“ Staňo meint die, die 1993 zwischen den einstigen Föderalstaaten Tschechien und der Slowakei entstand. Eine Grenze, die nur wenige Meter an seinem Haus vorbeiführt, und die – wie er sagt – mitten durch die Familien in seinem Dorf geht.
Warum es zur Teilung der ČSFR kommen musste, versteht in der Grenzregion kaum jemand. Und glaubt man dem 71-jährigen Jindřich Vojkovský, dann hat es auch kaum jemanden interessiert. „Die Leute haben es einfach so hingenommen“, meint der Rentner vor seiner Haustür. Er blickt nervös auf seine Armbanduhr, bald rufen die Glocken der hölzernen Dorfkirche durch den Schneeregen zur wöchentlichen Messe.
Nach dem Neujahrsfest vor 25 Jahren hätten zwar Zöllner am Waldweg nach Čierne patrouilliert, ein freundlicher Gruß habe aber zum Passieren gereicht. Seit dem 15. Dezember 1965 – das weiß Vojkovský wie so vieles auf den Tag genau – fahre zum Glück ein Bus in die Eisenhütten im tschechischen Třinec, der größte Arbeitgeber in der Region. Seither waren die Bürger nicht mehr auf die Eisenbahn auf der slowakischen Seite angewiesen.
Die Bewohner von Hrčava sind es gewohnt, Grenzen zu überwinden. Vojkovský hat sein Eheglück auf der anderen Seite der streng bewachten Grenze zu Polen gefunden. Mit kleinen Schmuggeleien besserten während des Kommunismus einige ihren mageren Lohn auf. „Ein paar haben dafür gesessen, ein paar sind sogar erschossen worden“, sagt Staňo.
Das Grundstück des Bürgermeisters ist links von einem polnischen Hügel und rechts von einem slowakischen Hügel umgeben. Festen Schrittes führt mich der bekennende Tschechoslowake in einen kleinen, weiß verputzten Stall: „Noch bis vor kurzem war das ein föderativer Stall“. Staňo blickt verschmitzt durch seine randlose Brille. Er habe sich einen slowakischen Bock geliehen, der für Nachwuchs bei den tschechischen Ziegen gesorgt hat. „Nach getaner Arbeit hat der Bock das Interesse verloren“, sagt er und lacht.
Aus heutiger Sicht war auch das Ende des föderativen Staates vorhersehbar. Nach der politischen Wende stritten sich die Politiker im Prager Föderalparlament um den Namen ihres Landes. Im sogenannten „Gedankenstrichkrieg“ wurde der Föderalstaat zweimal umbenannt. Der Graben ging auch durch die Parteienlandschaft der beiden Teilrepubliken. Die Föderalisten um Präsident Václav Havel und den Vorsitzenden der tschechischen Regierung Petr Pithart versuchten mit Zugeständnissen die slowakischen Separatisten zu besänftigen.
„Die Slowaken litten unter dem Syndrom einer unterdrückten Nation“, erklärt der Tschechoslowakei-Historiker Jan Rychlík. „Jede Nation, die in einem Vielvölkerstaat zahlenmäßig, wirtschaftlich und politisch schwächer vertreten ist, leidet unter einem solchen Syndrom.“ Nachdem im Juli 1992 die Slowakei ihre Souveränität erklärte, trat Havel als letzter Präsident der ČSFR zurück. Der Zerfall war nicht mehr aufzuhalten. Im Garten der Brünner Villa Tugendhat hatten die frisch gewählten Premiers Václav Klaus und Vladimír Mečiar schon einige Wochen zuvor die Trennung zum 1. Januar 1993 besiegelt.
Österreich-Ungarns letzter Akt
Bei einem Glas Weißwein in einem griechischen Restaurant in Prag erinnert sich Pavel Bratinka an ein – wie er sagt – blödes Gefühl. „Am 6. Januar 1993 flog ich als Stellvertreter des tschechischen Außenministers, als Repräsentant eines fremden Staates, in meine Geburtsstadt Bratislava.“ Der Gründer der rechtskonservativen Partei ODA und einstige Abgeordnete im Föderalparlament ist wie so viele Tschechen betrübt über den Zerfall des gemeinsamen Staates. Doch er glaubt nicht, dass er zu verhindern war.
Die in den vorgezogenen Wahlen von 1992 siegreichen slowakischen Parteien hätten sich zwar nicht klar zur Trennung bekannt, in ihrem Programm jedoch forderten sie klare Attribute eines eigenständigen Staates. Ein Zusammenleben wäre laut Bratinka nur um den Preis des ständigen Kampfes gegen den Zerfall möglich gewesen. „Das war die letzte Phase des Untergangs von Österreich-Ungarn“, sagt der 66-Jährige, der heute für europäische Investoren Lobby macht. Er sei froh, dass die Trennung friedlich und letzten Endes erfolgreich über die Bühne ging.
Pavol Gomola ist sich da nicht so sicher. Der Bürgermeister der 4.000-Seelen-Gemeinde Čierne auf der slowakischen Seite der Beskiden blickt etwas verlegen in seinem schummrigen Büro umher, wenn er von seinem persönlichen Verhältnis zur Tschechoslowakei spricht. „Ich kann das nicht beschreiben“, sagt er mit nachdenklicher Stimme, „ich habe mich immer als Slowake gefühlt, aber die Tschechoslowakei, das war Unseres, darauf war ich stolz, eine gute Marke.“
Wirtschaftlich folgte auf die Trennung auch in der Grenzgemeinde der freie Fall. Viele verloren ihre Arbeit in den Eisenhütten und Kohlegruben in Mährisch-Schlesien. Große Fabriken, die vorher ihre Generaldirektion an der Moldau hatten, wurden geschlossen. Erst nachdem der populistische Premier Vladimír Mečiar abgewählt wurde, kam Bratislava vom Weg zu einer repressiven Autokratie ab. Es folgte eine rasante Aufholjagd. Beachtliche Wachstumsraten katapultierten das Land innerhalb weniger Jahre in die NATO, EU und sogar in die Euro-Zone.
Für Marie, auf deren Wangen sich in der morgendlichen Kälte rote Äderchen kringeln, ist das ein schwacher Trost: „Mein Sohn ist arbeitslos, vor allem Männer haben hier keine Chance. Die, die etwas können, ziehen weg“, sagt sie, „zusammen wäre es einfacher gewesen“. In der Morgendämmerung hält sie nach ihrem Bus Ausschau, der sie zur Arbeit in die Kreisstadt Čadca fährt.
Über die vereisten Gehsteige schlittern kurz vor sieben Uhr morgens Pendler zum Bahnhof von Čierne. Trotz etwa 13 Prozent Arbeitslosigkeit ist Slavomír Švancar froh, in der Slowakischen Republik zu leben. „Endlich können wir uns auf internationaler Ebene zeigen, im Sport zum Beispiel“, sagt der Mittelschullehrer.
Große Pläne
Bürgermeister Gomola will auf Tourismus setzen – ebenso wie sein Verwandter Petr Staňo, Bürgermeister der tschechischen Nachbargemeinde. Im Moment verschlingen noch dringend nötige Investitionen in die Infrastruktur von Čierne einen Großteil der Fördergelder. Die Hauptstraße etwa muss repariert werden, der grenzüberschreitende Güterverkehr nach Polen hinterlässt hier riesige Schlaglöcher. Seit 1996 soll an einer Autobahn für den Fernverkehr gebaut werden. Fertig sind nur etwa 200 Meter im Norden der Gemeinde. Eine Betonmischanlage wartet im Tal auf ihren Einsatz.
Ob die Autobahn D3 dem Tourismus zuträglich sein wird, bleibt abzuwarten. Wenigstens konnte Gomola verhindern, dass die Planierraupen die archäologischen Fundstätten der schlesisch-ungarischen Befestigungsanlagen niederwalzen.
Autobahnbrücken über die Hügel zwischen Čierne und Hrčava sind geplant. Eine Zufahrtsstraße der D3 soll auch in die Gemeinde von Bürgermeister Staňo führen. Er fürchtet Transitverkehr und Massentourismus.
Dennoch hat Staňo große Pläne: eine lokale Biermarke, eine traditionelle Gastwirtschaft mit Fleisch aus regionaler, artgerechter Tierhaltung, ein Museum, im Dorf hergestellte Trachten als Souvenirs. Die rund 250 Einwohner von Hrčava sollten sich ihrer Tradition bewusst werden und Profit daraus schlagen. Das sei das einzige Mittel gegen Abwanderung und Arbeitslosigkeit. Angesichts der jährlich 50.000 Besucher, die hierherkommen, um am Ortsrand in drei verschiedene Staaten zu blicken, klingt das vernünftig. Noch erntet Staňo vor allem Skepsis – die Opposition um seinen Vorgänger torpediere seine Pläne.
Irgendwo zwischen dem Bekenntnis der Einwohner zur Tschechoslowakei im Jahr 1921 und der Trennung der Föderation 1993, zwischen Abwanderung und Arbeitslosigkeit, scheint die regionale Identität auf der Strecke geblieben zu sein. „Hier im Grenzland hat uns die Trennung am meisten getroffen“, sagt der Bürgermeister, „aber wir gestehen uns am wenigsten ein, dass sie stattgefunden hat.“
Dabei biete die Kultur der Goralen, ein Volksstamm, zu dem man sich vor allem im polnischen Jaworzynka bekennt, die Möglichkeit, an eine Tradition anzuknüpfen, die die Leute auf allen Seiten des Dreiländerecks verbindet – und der gemeinsamen Euroregion ein gewaltiges Entwicklungspotential. Nicht nur die drei Obelisken hinter Staňos Pferdekuppel symbolisieren das Zusammenleben dreier Nationen. Wie bei fast jedem in Hrčava schlägt sich das Dreiländereck auch in Staňos Biografie nieder: Er ist Sohn einer Tschechin und eines Slowaken, sein Großvater war Pole.
Der kürzeste Weg von Hrčava zum Bahnhof im tschechischen Städtchen Návsí führt über Polen. Das Handy verzeichnet den ersten Grenzübertritt.
Der Artikel erschien erstmals in der „Prager Zeitung“ Ausgabe 1/2 vom 10. Januar 2013.
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