Neben der Röhre
Der Dokumentarfilm „Pipeline“ erzählt vom Leben entlang der Erdgasleitung zwischen Sibirien und Deutschland
13. 1. 2016 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Hypermarket Film/Artcam
Was haben Kunden einer Kölner Würstchenbude mit sibirischen Rentier-Züchtern gemeinsam? Ziemlich wenig, zumindest was Mentalität und Wohlstand angeht. Und auch sonst unterscheiden sich die Lebensgewohnheiten stark. Doch etwas verbindet auch den auf Hightech getrimmten Westeuropäer mit einem Eisfischer am Rande der Taiga: die Transgas-Pipeline, die seit den siebziger Jahren russisches Gas in den Westen pumpt und von der beide profitieren.
Regisseur Vitaly Mansky und seine Kamerafrau Alexandra Iwanowa reisten Tausende von Kilometer entlang der Pipeline und filmten die Menschen, die in ihrer Nähe wohnen, arbeiten, nach Glück streben, leiden oder trauern. „Pipeline“ – in Tschechien läuft der Film unter dem Titel „Roura“, im deutschsprachigen Raum heißt er „Die Trasse“ – wurde schon 2013 gedreht und heimste bei renommierten Festivals wie dem „Kinotavr“ in Sotschi oder in Karlovy Vary begehrte Preise ein. Nun läuft die tschechisch-deutsch-russische Koproduktion mit zweijähriger Verspätung auch in den hiesigen Kinos an.
Mansky beginnt seine Odyssee bei der ethnischen Minderheit der Ewenken. Sie leben von der Viehzucht und der Fischerei, werden aber vom russischen Staat und dessen Gasreichtum subventioniert. Wenn das von den harten Lebensbedingungen gezeichnete Familienoberhaupt verzweifelt versucht, ein altes Handy zu bedienen und dabei scheitert, entlockt die kuriose Szene dem Zuschauer ein Schmunzeln. Doch gleichzeitig stimmt sie auch nachdenklich.
Wie zu Puschkins Zeiten
Mit der Eisenbahn geht es gen Westen – vorbei an Dörfern, die auch zu Puschkins Zeiten kaum anders ausgesehen haben dürften. Der Alltag: ländlich, einfach, von Armut und Entbehrung geprägt. Wir begleiten einen orthodoxen Wanderpriester, demonstrierende Kommunisten und nostalgische Kriegsveteranen. „Die Menschen in meinem Film haben ganz unterschiedliche Einstellungen zum Leben, zum Sterben, überhaupt zur irdischen Existenz“, erklärt Regisseur Mansky. Je weiter man ihm in Richtung Europa folgt, desto deutlicher wird das. Spätestens in Böhmen ist es mit der in Russland verbreiteten tiefen Gläubigkeit vorbei. Auch der tschechische Mitarbeiter des Krematoriums verwendet russisches Erdgas, um seinen Ofen zu befeuern. Sein trocken-sarkastischer Umgang mit dem Tod würde die gebrechliche sibirische Großmutter, die einzig für den Gottesdienst viele Kilometer mit dem Schlitten anreist, heftig vor den Kopf stoßen.
Mansky belässt die Protagonisten in seinem zweistündigen Werk bewusst namenlos. Nur selten erfahren wir überhaupt, wo genau er sich gerade befindet. Das müssen wir aber auch nicht. Mit seinen stimmungsvollen Bildern sowie seinem Gespür für besondere Situationen zieht er den Zuschauer direkt hinein in den russischen, ukrainischen, polnischen, tschechischen und am Ende auch in den deutschen Alltag.
Die Reise endet mitten im Kölner Karneval, wo betrunkene Jugendliche in modernen Straßenbahnen den 1. FC hochleben lassen und der Gaslieferant vor einem überdimensional großen Bildschirm den Abend mit Videospielen verbringt. Dann schweift der Blick noch einmal über die sibirische Taiga – der Bruch könnte kaum größer sein. „Ich weiß nicht, was besser oder schlechter ist“, äußert sich Mansky über die Unterschiede der von ihm dokumentierten Lebenswelten. „Doch eines ist klar: Es dauert wohl mindestens noch weitere hundert Jahre, bis sich der Westen und Osten angeglichen haben“, so der 52-jährige Filmemacher. Bleibt die Frage, ob das überhaupt wünschenswert ist. Angesichts der traurig-romantischen Bilder zu Beginn würden die meisten wohl nein sagen. Aber sie sitzen ja auch im gemütlichen, vermutlich mit sibirischem Gas beheizten Kinosaal – mitten in Europa.
Pipeline (Roura). RUS/D/CZ 2013, 120 Minuten, ab 14. Januar in den tschechischen Kinos
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?