Nicht unbewohnt, aber unbeseelt
Helmut Schümann wandert bei seiner Deutschlandumrundung auch durch Böhmens Grenzgebiete
21. 1. 2015 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Martin Pilát
Deutschlands „Umfang“ misst gut 3.700 Kilometer. Der Journalist und Reporter vom Berliner „Tagesspiegel“ Helmut Schürmann hat das Land von Ende April bis Ende Juni 2013 umrundet, im Uhrzeigersinn von Swinemünde durch Polen, Tschechien, Österreich und so fort und am Ende durch Dänemark wieder bis zur polnischen Grenze bei Swinemünde. Zwei Fünftel dieser Strecke – 1.475 Kilometer – legte er zu Fuß zurück, für den Rest benutzte er je nach örtlichen Verhältnissen Bahn oder Bus. 2014 hat Schümann über seine außergewöhnliche Reise ein Buch veröffentlicht: „Genie und Gartenzwerg. Wie uns die anderen sehen“.
Ganz neu war die Idee einer Deutschlandumrundung zu Fuß und der literarischen Verarbeitung eines solchen Unternehmens nicht. Etwa neun Jahre früher hatte Wolfgang Büscher eine ähnliche Grenzwanderung im Uhrzeigersinn unternommen, allerdings innen an den deutschen Grenzen entlang, und darüber ein wunderschön wehmütiges Buch über Deutschland geschrieben, das er 2005 vorlegte. Schon zwei Jahre zuvor war er durch sein preisgekröntes Buch „Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß“ als begnadeter Wanderer und Erzähler bekannt geworden. Klassisches Vorbild bleibt natürlich Johann Gottfried Seumes mit politischen Kommentaren gespickter „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“.
Schon der Titel von Schümanns Buch verrät uns das Anliegen des Autors: Er will auf seiner Wanderung durch Deutschlands Nachbarländer herausfinden, „wie uns die anderen sehen“. Und der Klappentext verspricht, der Autor habe „mit jenen gesprochen, die es wissen müssen: unseren Nachbarn“. Im ersten Kapitel sagt Schümann zum Warum seiner Anstrengungen: „Einfach so. Und vielleicht, weil man sich selbst besser kennenlernt, wenn man sich von außen betrachtet.“ Ein weiterer Grund „könnte sein“ – Schümann ist sich da wohl nicht ganz sicher – „dass wir Deutschen auf einmal so wichtig sind in Europa, dass wir im Zentrum stehen und die Rädelsführer sind.“ Und schließlich soll „eine nicht unwichtige Rolle … vielleicht auch“ spielen, „dass die Deutschen ein paar von diesen neun Ländern, und nicht nur die, in ihrer Geschichte auch schon das ein oder andere Mal überfallen und sich als ihre Besatzer nicht gut aufgeführt haben. … Und vielleicht fühle ich mich deshalb so unwohl, wenn wir Deutschen im Jahre 2013 wieder so dicketun und den Nachbarn erzählen wollen, wie sie genesen sollen.“ Das ist für den Leser alles ziemlich verwirrend, und am Ende seines Versuchs, die Absicht des Buches zu erklären, sieht Schümann selbst resigniert ein: „Ach, was weiß denn ich, warum mir diese Idee kam, den Rucksack zu packen …“
Ein beträchtliches Stück der deutschen Grenze sind die 811 Kilometer deutsch-tschechische Grenze, nur vier Kilometer weniger als das längste Grenzstück mit Österreich. Die Schilderung der Wanderung durch Tschechien nimmt folgerichtig fast ein Drittel der Wegbeschreibung ein. Erfährt der Leser also, wie die Tschechen uns Deutsche sehen? Außer einigen sattsam bekannten Klischees vermag uns Schümann nichts wirklich Erhellendes zu berichten, keine neuen Erkenntnisse oder Perspektiven, welche der großen Mühe wert gewesen wären. Etwas mehr ist dagegen über Tschechien und die Tschechen zu erfahren, wenn auch hier die Ausbeute deutlich unter den Möglichkeiten eines ja im Grunde guten Ansatzes bleibt, nämlich wandernd mit den Grenzlandschaften und ihren Menschen in enge Berührung zu kommen und durch Beobachtung und Gespräch zu Einsichten zu gelangen, die es wert sind, festgehalten und weitergegeben zu werden.
Am meisten – und ganz sicher mehr, als man jemals möchte – erfahren wir über den Autor selbst, wie er mit dem gerade in jenen Wochen über Mitteleuropa niedergehenden Dauerregen kämpft, über durchnässte Kleidung, über Verletzungen beim Ausrutschen auf glitschigem Grund, über seine wetterbedingt wechselnden Launen, über einen Hexenschuss, der ihn im nordböhmischen Kadaň (Kadaun) plagt, und dergleichen mehr. So kommt der Autor nicht nur hin und wieder vom Weg ab, wenn es zum Beispiel im polnisch-tschechischen Grenzgebiet an Wegweisern mangelt, sondern eben auch von seinem erklärten Vorsatz, Deutschland und die Deutschen mit den Augen der anderen zu sehen.
Chance vertan
Je mehr sich der Leser in das Buch vertieft, umso mehr verstärkt sich zudem der Eindruck, dass sich Schümann nicht wirklich gut auf seine Wanderschaft vorbereitet hat. Sowieso ist es ja schwer, aus den meist zufälligen Gesprächspartnern Einschätzungen herauszuholen, die über die üblichen Plattitüden hinausgehen, wenn die Kommunikation schon an den Sprachgrenzen scheitert. Umso wichtiger wäre es gewesen, durch gründliche Information vorab die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen. Aber wenn der Autor den Böhmerwald in Nordböhmen lokalisiert, kann die Reisevorbereitung die Landeskunde kaum gestreift haben.
Breiten Raum nimmt die Schilderung der nordböhmischen Reisestationen von Frýdlant (Friedland) bis Cheb (Eger) ein. Der Regen als ständiger Begleiter muss die ohnehin dort vorherrschende Tristesse noch zugespitzt haben. Die überall anzutreffende Gleichgültigkeit der Menschen, ihre Unfreundlichkeit und schlechte Laune brechen immer wieder durch. Der Wanderer selbst wird mürrisch und fragt sich: „Ist das ansteckend?“ Die Dörfer sind gottverlassen, nur selten ist jemand auf den Straßen zu sehen. „Die Häuser wirken nicht unbewohnt, aber unbeseelt.“ Das ist sehr treffend formuliert. Und hier würde man gerne mehr darüber lesen, wie denn dies alles mit der älteren und jüngeren Vergangenheit zusammenhängt. Doch nichts davon.
In Cheb lässt sich Schümann von zwei deutschen Mitarbeitern des gemeinnützigen Vereins „Grenzüberschreitende Prävention und Sozialarbeit in Prostitutions- und Drogenszenen, KARO e.V.“, eingehend über den nun schon Jahrzehnte andauernden Skandal der ungehemmten Straßenprostitution in den Grenzgebieten informieren. Cheb ist das Zentrum dieser Szene, immerhin darüber hatte sich der Autor vorab informiert, so dass es ihn „vor der Stadt gruselt“. Was er dazu zu sehen und zu hören bekommt, vor allem darüber, wie sehr Kinder und Kleinkinder zur Befriedigung der „Nachfrage“ aus den sächsischen und bayerischen Grenzregionen missbraucht werden, das lässt Schümann schließlich fluchtartig die Stadt Richtung Süden verlassen: „Ich kann dieses Elend nicht mehr ertragen. Weg. Weg. Weg.“ Und bald schon fängt er „langsam an, Cheb zu verdrängen“. Das tun leider zu viele zu lange in Tschechien und in Deutschland.
Aber auch hier bleibt das Buch oberflächlich. Schümann geht den Dingen nicht auf den Grund, fällt bald wieder zurück in seinen schnoddrigen Erzählstil, der häufig bemüht witzig wirkt und dem Gegenstand nicht angemessen ist. Die Grenzregionen Böhmens und ihre Bewohner hätten es verdient, wenn der Autor ihnen mit mehr Empathie und der Fähigkeit zuzuhören begegnet wäre. Leider hat er eine unter erheblichen Mühen erarbeitete Chance vertan. Dass es auch anders geht, hat uns 2005 Petr Mikšíček mit seinem Buch „Sudetská pouť aneb Waldgang“ (2014 unter dem Titel „Waldgang“ in deutscher Übersetzung erschienen) gezeigt, das ebenfalls aus einer langen Wanderung entlang der tschechischen Grenzen entstand. Mikšíček hat es nämlich verstanden, aus der Geschichte der Region und ihrer Menschen, den Erzählungen über ihre Vergangenheit und Gegenwart ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen.
Helmut Schümann: Genie und Gartenzwerg. Wie uns die anderen sehen. Eine Deutschlandumrundung. Rowohlt Verlag, Berlin 2014, 256 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-87134-772-6
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