Nicht zufällig liegt hier der Vater der Nation
An der Elbe entlang nach Lobkovice (Lobkowitz) zu František Palacký
13. 11. 2019 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Miloslav Hamřík
Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“
Fast täglich warte ich an dem von Sucharda geschaffenen Denkmal von František Palacký auf die Straßenbahn und fast jedes Mal drängen sich mir die Verse auf: „Wer war nur, greiser Alter / Deines Kopfs Gestalter? / Hat jemand drauf geschlagen? / War’s schon so seit Windeltagen?“
Der geniale Verrückte T. R. Field [eines der Pseudonyme des Dichters Theodor Adalbert Rosenfeld, später geändert in Bohdan Vojtěch Šumavanský, 1891–1969; Anm. PZ] würdigte mit diesen Versen den Kopf von Palacký, der in der Tat irgendwie kantig ist, gleichsam kubistisch, was allerdings der Zeit entspräche, als Stanislav Sucharda [1866–1916; tschechischer Bildhauer; das Palacký-Denkmal am Moldauufer in Prag gilt als sein Hauptwerk; Anm. PZ] an ihm arbeitete: Die Statuengruppe wurde 1912 enthüllt. Palacký erinnert ein wenig an einen sitzenden Frankenstein, der in Richtung Smíchov blickt und Ausschau hält, wann endlich die Straßenbahn kommt. Falls er einmal aufstünde und losginge, hielte man ihn wohl für den Golem und er würde sofort beträchtliches Aufsehen erregen.
Palacký wurde bekanntlich schon zu Lebzeiten als „Vater der Nation“ bezeichnet, ohne dass er dafür Alimente hätte zahlen müssen. Gelegentlich wurde behauptet, er habe den tschechischen Nationalismus verschuldet, der sich dann ziemlich unverträglich zeigte, während andere wie Täubchen waren. Er gehörte zu den wenigen Menschen, von denen man wirklich sagen könnte, dass ohne sie die tschechische Geschichte anders aussähe und einen anderen Weg eingeschlagen hätte, schwer zu sagen, ob einen besseren. Er war ein Titan, der ein gewaltiges Werk hinterlassen hat, das zwar kaum noch jemand liest, aber irgendwie bis heute Bestand hat, ob die Tschechen es wollen oder nicht. Zudem muss er auch eine imposante Gestalt gehabt haben, schon vom Anblick her eindeutig eine Führungsgestalt, die sich vielleicht nur mit Masaryk vergleichen lässt, der auch diese Leader-Visage hatte, eine gerade schlanke Gestalt, einen klassischen Schädel mit lebendigem und ruhigem Blick und einem achtunggebietenden Äußeren.
Der einzige Makel an Palacký war der geschwollene Hals, eine Struma oder ein Kropf, den er mit einem bis zum Kinn gewickelten Seidenschal bedeckte. Und später im Alter trug er, wenigstens berichtet dies sein Biograf Jiří Kořalka [1931–2015, tschechischer Historiker; Anm. PZ], eine Perücke, die ihm oft nach hinten rutschte, so dass er sie nach vorn schieben musste; die letzte kaufte er sich ein Jahr vor dem Tod für 16 Gulden.
Palacký ist eben einer jener Namen, die aus dem 19. Jahrhundert bis heute im Kurs blieben. Wenn ich aber meine ansonsten einigermaßen gebildeten Freunde fragen würde, wo Palacký begraben liegt, käme von den meisten sicher als Antwort: wohl auf dem Vyšehrad. Und das wäre auch logisch. Aber ebenso, wie Tomáš G. Masaryk nicht in Prag begraben ist, liegt Palacký an einem fast verschwiegenen Ort, zu dem der Pilger am leichtesten auf einem verwachsenen Pfad entlang der Elbe gelangt, und zwar von dem Industriestädchen Neratovice aus, wohin man sich gewöhnlich nur dann aufmacht, wenn es dafür unabweisbare Gründe gibt. Das ist übrigens schade, denn auch diese Siedlung aus der Normalisierungszeit birgt Beachtenswertes, zum Beispiel die riesige Keramikfassade eines Kinos aus den siebziger Jahren, als man bei solchen Bauten nicht knauserig war.
Der Ort liegt drei Kilometer stromaufwärts von Neratovice und heißt Lobkovice, ebenso wie das alte tschechische Adelsgeschlecht, das nach diesem Ort benannt ist. Schon im 14. Jahrhundert gab es dort auf einem mäßig hohen Felsen eine Festung, die ein Mikuláš Chudý aus Újezd erwarb, der dann anfing, sich von Lobkowitz oder möglicherweise von Lobkowicz zu nennen, was etwas tschechischer klingt. Die Lobkowiczer teilten sich später auf in die Popel von Lobkowicz und die Hasištejner (Hassensteiner) von Lobkowicz, wobei beide Zweige in der tschechischen Geschichte eine bedeutende Rolle spielten; bis heute sind sie noch nicht ausgestorben.
Lobkovice war freilich nie der Stammsitz des Geschlechts, vielmehr scheint es, als ob die Lobkowiczer nie genau wussten, was sie mit der Burg oder dem Schloss anfangen sollten, und so kam es zum Verkauf. Im 16. Jahrhundert gehörte es dem Rittergeschlecht Sekerka von Sedčic, deren Wappen zwei Äxte schmückten, und diente ihnen als Landgut im Renaissancestil und als Getreidespeicher. Im Dreißigjährigen Krieg ging das Anwesen wieder zurück an die Lobkowiczer, doch während des langen Krieges zog die Soldateska mehrmals hindurch, und das war ihm dann auch anzusehen. Der bekannte Baumeister Antonio Porta (1631–1702) baute das Schloss im Stil des Frühbarock um, was an einigen Stellen noch zu erkennen ist. Im Jahre 1829 kaufte es der Prager Advokat und reiche Gutsbesitzer Jan Měchura, womit wir nun bei dessen Schwiegersohn František Palacký anlangen.
Aber vorher müssen wir noch das Schloss erreichen. Um zu ihm zu kommen, muss man freilich zunächst eine Schranke überwinden, die Ihnen Herr Josef Kubias öffnet, den Sie vorher anrufen müssen: Die Telefonnummer steht im Internet. Und nach einer Viertelstunde Wartezeit erscheint ein vitaler Prachtkerl, den man um 15 Jahre jünger schätzt, als er wirklich ist, worüber er lacht. Und er lacht eigentlich die ganze Zeit, weil er seinen Schlossführungsjob auf eine unwiderstehliche Weise ausübt, so dass man nach einer Weile das Gefühl hat, dass es sich im Grunde um einen alten Bekannten handelt. Und weil er hochaufgerichtet geht und seine Sprache expressiv bis abgehackt ist, könnte man ihn für einen Sportlehrer oder Offizier halten, wobei beides zutrifft. Er diente in der Armee, doch nach dem August 1968 war er mit der Okkupation nicht einverstanden. Deshalb wurde er entlassen und arbeitete fortan zum Beispiel als Fachmann für Feldschädlinge. Nach 1989 wurde er rehabilitiert, und jetzt ist er Oberstleutnant außer Diensten.
Zur Armee kam er vor allem deswegen, weil er ein Sportler war und sich dem modernen Fünfkampf widmete, wobei ihm das Fechten am meisten lag. „Und wissen Sie, wie das kam?“ fragte er. „Weil ich ferne türkische Vorfahren habe“, sagte er stolz, und seine Augen blitzten dabei orientalisch. „Deshalb habe ich mich mit dem Degen sofort gut verstanden, kaum hatte ich ihn in der Hand, konnte ich schon mit ihm umgehen.“ Und beinahe hätte er einen Degen von der Wand genommen, um seine Kunst vorzuführen. Aber stattdessen baute er sich wie vor einem Publikum auf und rezitierte sein Gedicht: „Der große Palacký selbst es war, / der schrieb auf dem Schlosse wohl acht Jahr’ / der Böhmen Geschichte, wahr und klar.“
Diese acht Jahre waren die Jahre von 1852 bis 1860, in denen tatsächlich der größte Teil der monumentalen „Geschichte von Böhmen“ entstand, die er ab 1852 in tschechischer Sprache schrieb, auch wenn in der Familie Měchura in Prag meist deutsch gesprochen wurde. Aber mit seinen Kindern, dem Sohn Jan und der Tochter Marie, die ihre Kindheit überwiegend in Lobkovice verlebten, sprach er tschechisch. Als 28-Jähriger lernte Palacký deren Mutter, Terezie Měchurová, kennen, sie war acht Jahre jünger. Es war wohl keine Liebe auf den ersten Blick, denn ihm gefiel Tereziens Schwester Antonie besser, aber die gab ihm einen Korb. Da nahm er mit Terezie vorlieb, was er sicher nie bedauerte, denn man liest über eine vorbildliche Ehe und eine lebenslange Liebe des disziplinierten Mannes. Man muss hinzufügen, dass Terezie auch eine sehr gute Partie war, vielleicht eine der besten, die überhaupt in Prag zu haben waren. Denn Palacký war zwar schon als junger Mann dank seiner konkurrenzlosen Begabung respektiert, doch war er völlig ohne Vermögen und zudem evangelisch, so dass er schwerlich von einem adligen Fräulein träumen konnte.
Die Patrizierfamilie Měchura, der ein Haus in der Pasířská-Straße (Gürtlergasse), heute natürlich Palacký-Straße, gehörte, ersetzte diesen Mangel voll und ganz. Die Měchuras besaßen zudem Lobkovice, wo sich die Eheleute Palacký nach ihrer Hochzeit schon im Jahre 1830 den ersten Sommer aufhielten, in dem auch ihr erster Sohn Jan zur Welt kam. Nachdem der Schwiegervater Měchura gestorben war und Terezie 1840 das Anwesen Lobkovice erbte, verbrachte die Familie hier regelmäßig den Sommer und in den fünfziger Jahren zog sie für den Großteil der Zeit hierher; František hatte hier am ehesten Ruhe für seine Geschichte: Mehr dazu findet sich in der bereits erwähnten ausgezeichneten Biografie von Jiří Kořalka (Verlag Argo, 1998).
Es ist schwer, sich ein Bild davon zu machen, wie es damals dort ausgesehen hat, gewiss gemütlicher als heute. Das Schloss ist nicht gänzlich verwahrlost, doch dass dort jemand leben könnte, ist kaum anzunehmen. Ende des 19. Jahrhunderts kehrte das Schloss erneut zurück in das Eigentum der Lobkowiczer, vielleicht hauptsächlich aus symbolischen Gründen, aber wohnen konnte man hier und einige Zimmer wurden komplett eingerichtet.
Im Jahre 1948 nahm man ihnen das Gebäude weg und alles wurde daraus gestohlen. Danach gab es in dem Gebäude einen Kindergarten, ein Materiallager der Gesundheitsverwaltung, dann erwog man in den sechziger Jahren, aus dem Schloss ein Palacký-Museum zu machen, wovon man aber wieder abkam. In den achtziger Jahren gehörte das Objekt der Karlsuniversität, die es für die Lagerung von Büchern „instand setzte“. Zweimal (1950 und 1977) schlug der Blitz im Turm ein. 1992 erhielt Alexandre Lobkowicz – als Erbe seines Vaters Albert de Ridder – das Schloss durch Restitution zurück in den Familienbesitz. Ich erinnere mich, dass es Mitte der neunziger Jahre völlig überwuchert war und dass aus der üppigen Vegetation nur noch der Turm hervorschaute. Zu ihm zu gelangen war unmöglich. Zur Gruft der Familie Palackýs wies ein einziger beschädigter Pfeil aus Blech. Das hat sich inzwischen geändert.
Die Familiengruft lehnt sich an die Kirchhofsmauer der kleinen gotischen Mariä-Himmelfahrt-Kirche. Zuerst wurden die Gebeine von Terezie dort bestattet; sie starb am 18. August 1860 in Děčín (Tetschen) auf der Rückreise von ihrem Sommeraufenthalt in Nizza – dorthin reisten die Palackýs häufiger. František überführte sie in einem Zinksarg nach Lobkovice, und hier verabschiedete er sich von ihr. Nach Lobkovice kam er immer zum Jahrestag ihres Todes, zuletzt im Jahre 1874.
Am 26. Mai 1876 starb František Palacký in der Pasířská-Straße, wo inzwischen auch sein Schwiegersohn František Ladislav Rieger [1818–1903; böhmischer Publizist und Politiker; Anm. PZ] wohnte. Seit dem Tod von Karl IV., dem Vater des Vaterlandes, soll Prag keinen so grandiosen Trauerzug mehr erlebt haben wie denjenigen von Palacký. Die Trauerkutsche mit dem Sarg begleiteten 300 private und gemietete Fahrzeuge nach Lobkovice. Der Sarg mit dem Vater der Nation wurde dann in die Gruft neben dessen Gattin hinabgelassen, die 16 Jahre auf ihn gewartet und die ihn einst nach Lobkovice geführt hatte.
Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Není to náhoda, že tu leží Otec národa. Za Františkem Palackým podél Labe do Lobkovic“ in der Ausgabe 30 vom 25. Juli 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ