Oase der Integration

Oase der Integration

Ein Ort in Nordböhmen ist Vorbild für den Umgang mit der Roma-Minderheit

5. 2. 2014 - Text: n-ostText: Silja Schultheis (n-ost); Foto: ČTK/Ondřej Hájek

Drahomíra Miklošová kann sich noch genau an den Tag erinnern, als sie mit ihrem Mann vor zwölf Jahren nach Obrnice (Obernitz) zog, eine 2.500-Einwohner-Gemeinde in Nordböhmen, keine 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. „Meine erste Reaktion war damals: Hier bleibe ich nicht. Es gab hier nichts – keinen Ort, wo man sich treffen konnte, keine Kultur.“ Die Stimmung zwischen den rund 40 Prozent Roma und den übrigen Bewohnern war gereizt, die Kriminalität hoch, erinnert sich die heute 60-Jährige. „Es lag in der Luft, dass es hier jeden Moment zur Explosion kommen könnte – wie in den Nachbarorten.“

Die Gemeinde Chanov, unmittelbar nebenan, war lange Zeit eines der berüchtigsten Roma-Viertel Tschechiens. Ein Symbol für die Isolierung der geschätzt 250.000 Roma im Land, von denen rund ein Drittel in ghetto-artigen Siedlungen lebt – mit einer Arbeitslosenquote von über 90 Prozent, Kriminalität, Drogen. Und einem hohen Potenzial für soziale Spannungen. Viele Gemeinden verschärfen die Lage zusätzlich, indem sie Roma gezielt in überteuerte Unterkünfte am Stadtrand verdrängen.

Dass Drahomíra Miklošová letztlich in Obrnice geblieben ist, war das Verdienst ihres Mannes. Nicht, weil dieser entschlossen war, hier das Haus seiner Eltern zu übernehmen. Sondern weil er zu ihr sagte: „Abhauen kann jeder. Aber etwas zu verändern, das erfordert Mut.“

Ein neuer Anstrich
Beide beschlossen, das Leben in Obrnice gründlich umzukrempeln. Sie stürzten sich mit vollem Elan in die Kommunalpolitik und Miklošová schaffte es, als Kandidatin der konservativen ODS zunächst Vizebürgermeisterin und 2010 schließlich Bürgermeisterin zu werden. In einer traditionell links wählenden Region alles andere als erwartbar.

Beherzt nahm sie die drängendsten Probleme der Gemeinde in Angriff – vor allem den massiven Mietwucher. Um den Wohnungsmarkt nicht skrupellosen Spekulanten zu überlassen, kaufte die Gemeinde mehrere privatisierte Wohnungen zurück. Die Gemeinde bekam einen neuen Anstrich: Schule und Kindergarten wurden renoviert, Kinderspielplätze gebaut, öffentliche Plätze neu gestaltet. Der Ort sei insgesamt wesentlich lebenswerter geworden, sind sich die meisten Obrnicer einig. Die allgegenwärtige Kriminalität bekam Miklošová in den Griff, indem sie im Ort Video­kameras installieren ließ und sogenannte „Assistenten zur Prävention von Kriminalität“ einstellte.

Milan Gruza, ein stämmiger Rom um die 50, ist einer von ihnen. Im Wechsel mit seinen Kollegen geht er von 7 bis 22 Uhr auf Streife durch die Gemeinde und passt auf, dass niemand auf kriminelle Gedanken kommt. „Im Vergleich zu anderen Gemeinden ist das Zusammenleben bei uns gut“, sagt Gruza. „Wir grüßen uns hier gegenseitig. Und wenn es ein Problem gibt, dann sprechen wir darüber und einigen uns irgendwie.“

In Obrnice läuft vieles anders
Von der Hetzstimmung gegen Roma ist Obrnice bislang verschont geblieben. Seit etwa einem Jahr eskaliert die Lage in Tschechien immer wieder: Regelmäßig marschieren Neonazis gegen Roma auf; die Behörden warnen, dass sich der Antiziganismus bis weit in die Mittelklasse ausbreitet. Nicht so in Obrnice: „Aufmärsche von Rechtsradikalen? Das würde unsere Bürgermeisterin gar nicht erlauben“, sagt Gruza bestimmt.

„Unsere Bürgermeisterin“ – das ist die erste Antwort auf die Frage, warum in Obrnice vieles so anders läuft als in den Nachbargemeinden. Vor allem ist es Drahomíra Miklošová gelungen, ein neues Miteinander in der Gemeinde zu schaffen. Auf Stadtfesten, Laternenumzügen, Seniorentagen und Bällen hat sie die Bürger immer wieder zusammengebracht. „Früher gab es hier zwei Lager – Roma und Nicht-Roma, jedes von ihnen lebte für sich“, erinnert sich Vladimíra Šustková, die Leiterin des örtlichen Kindergartens. „Jetzt sind beide Gruppen miteinander verbunden.“

„Es geht heute nicht mehr um Roma oder Nicht-Roma“, sagt auch Lucie Matějovicová. Sie ist Leiterin des Zentrums für soziale Dienstleistungen, das im Frühjahr eröffnet wurde und über die Europäischen Sozialfonds finanziert wird. „Es geht insgesamt um sozial Schwache. Sie haben alle dieselben Probleme: Arbeitslosigkeit, Wucher, Verschuldung.“ Bürgermeisterin Miklošová sagt: „Mich stört es, wenn Projekte ausdrücklich nur für Roma sind. Das ist schon der erste Schritt zur Segregation.“

Gleiche Maßstäbe für alle
Wo man hinkommt in Obrnice – ob Schule, Kindergarten, Gemeindezentrum – immer wieder hört man Aussagen wie die von Schulleiter Vladimír Šiman: „Unser Ziel war es von Anfang an, Roma-Kinder nicht separat zu behandeln. Wir legen dieselben Maßstäbe für alle an.“ Šimans Grundschule praktiziert seit Jahren ganz selbstverständlich inklusive Bildung – lange bevor in Prag und Brüssel angefangen wurde, darüber zu sprechen. Ähnlich ist es im Kindergarten von Obrnice. Die Schlüsselstellen der Gemeinde, diesen Eindruck macht es, ziehen an einem Strang. Für diesen komplexen Zugang zur Integration der Roma ist Obrnice Anfang November mit dem Dosta-Preis des Europarats ausgezeichnet worden. Ein Appell auch an andere tschechische Gemeinden. „Meine Philosophie ist: Lasst uns nicht die Roma von einer Stadt in die nächste schicken“, sagt Drahomíra Miklošová. „Das ist zwar politisch einfacher. Aber ich finde, jeder Ort sollte die Verantwortung für seine Roma übernehmen.“