Prager Kneipennächte II
Kurz vor zwei Uhr. Frauen gehen vor die Tür. Wo Raucher stehen. Setzen sich auf Fensterbank und schmusen. Ihre Schatten sind durch große Glasscheibe von innen zu erkennen. Besitzer schaut hinterher. Lächelt. Geht dann raus und raucht auch Zigarette.
Kleine Luftschächte an gegenüberliegenden Wänden. Werfen ununterbrochen Art von Frischluft in kleinen Raum. Obwohl hier längst nicht mehr geraucht wird. Ärmel mancher T-Shirts flattern im Wind. Umso stärker, je näher Träger den Gebläsen sitzen. Hin und wieder niest einer.
Etwa viertel drei. Eine Matrosen-Frau geht auf Toilette. Jindřich sieht ihr nach. Kurz darauf folgt die andere. Sind nach fünf Minuten noch nicht zurück. Jindřich hält’s nicht mehr aus. Geht ihnen nach. Stößt an Tür in sie hinein. Kommen gerade wieder zurück. Jindřich wirkt enttäuscht.
Halb drei. Frauen geraten plötzlich mit Mann in Streit. Ist nicht Jindřich, sondern anscheinend Ehemann von dünn Gestreifter. War plötzlich in der Kneipe. Rät ihm, nach Deutschland abzuhauen, wenn’s ihm nicht passt. Jindřich wirft sich dazwischen. Mann geht. Jindřich bekommt Schmatz von dünn Gestreifter. Macht jetzt auf Kavalier. Lädt Frauen zu Schnaps ein. Eine gibt noch Schnaps dazu. Jindřich schmeißt sich an Frau mit dicken Streifen ran. Streicht ihr übers Haar. Dann über Zopf. Wehrt ihn mit heftigem Schlag ab. Dünn Gestreifte lächelt Jindřich einfach weg. Wie zuvor schon an der Tür. Ignoranz durch Lächeln.
Besitzer beschließt kurz vor drei, Kneipe dichtzumachen. Kommt an Tisch, räumt Gläser ab. Sagt „Schluss“. Ohne Vorwarnung. Nur dieses Wort. „Last order“ nicht mehr möglich. Platziert sich dann wie angriffsbereite Bulldogge zwischen Tresen und Küchentür.
Noch sechs Gäste im Raum. Schätzungsweise zwischen 25 und 40 Jahren. Zwei trinken seit Stunden Whisky-Mischgetränke. Zuweilen auch Whisky pur. Besitzer fasst jetzt jeden Einzelnen scharf ins Auge. Nicht einer wagt es, noch länger als zwei Minuten zu bleiben.
Donnerstag Nacht:
Großes Glück, dass in tschechischen Kneipen noch gesungen wird. Findet Ondřej. Hier jeden Donnerstag. Zuweilen bis spät in die Nacht. Am Tisch der Basar-Bastlerinnen von Sonntag heute Gruppe älterer Leute. Vier Männer und drei Frauen. Lichtere Haare, größere Wampen. Etwas bessere Klamotten. Frauen blondiert. Trinken nur Wein, meist Rotwein. Gerne auch Espresso, sogar nachts um halb zwei. Bilden eigene Insel in diesem bierseligen Ozean. Klatschen für sich, reden nur untereinander. High Society des Lokals. Sozusagen.
Großes Horn an der Decke. Daneben Gitarre. Dazu Klavier vor Toilette. Wird so gut wie nie genutzt. Wahrscheinlich verstimmt. Kleine Bühne schräg gegenüber. Für kleine Konzertauftritte übers Jahr. Deshalb auch Spot an der Wand.
Inmitten der besseren Gesellschaft: drahtiger Mann, kurze graue Stoppelhaare. Ende 50. Quasi der Elder Statesman. Moderiert Gespräche am Tisch. Bestellt zuweilen für alle. Greift jetzt zur Gitarre. Holten zwei Gäste zuvor für ihn von der Decke. Begleitet sich dazu selbst mit Mundharmonika. Hängt um seinen Hals.
Spielt so was wie Fahrtenlieder. Klingt wie Heino in seinen frühen Jahren. Singt dazu, mit kräftiger Stimme. Volumen reicht aber nicht ganz an deutschen Barden ran. Songs sind vielen Besuchern bekannt. Auch jüngeren. Unterbrechen angeregte Gespräche über Beruf und Alltag. Stimmen bei mancher Strophe ein. Könnten sie aus Kindheit und Jugend in einem Ferienlager kennen. Sind hierzulande ja sehr beliebt.
„Unsinn“, korrigiert Ondřej. Sind Lieder aus tschechischer Tramperbewegung. Gibt es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Erläutert Ondřej. Freiheit, Abenteuer, Melancholie!
„Schööön.“ Ondřej, der deutschen Sprache mächtig, schwärmt von jedem Lied. Mit lang gezogenem Umlaut. Besonders von diesem jetzt. Handelt von Mann, der am nächsten Tag erschossen wird. Gedenkt all der Küsse und Liebe, die er nicht hatte. „Ach, wie schön“. Ondřejs Augen leuchten. Wie Kornblumen im Sommerlicht. Das Kind im Manne erwacht zu neuem Lebensglück.
Sänger liest Text von Tablet ab. Seine Abenteuer liegen zu lange zurück, um noch jede Zeile zu kennen. Applaus von Zweier- und Vierertischen. Junger Mann von etwa 130 Kilo Lebendgewicht reißt fleischige Arme hoch. Brüllt mehrfach freudetrunken „Hurra“ aus. Besonders nach diesem Lied.
Ondřej hat wieder Robot dabei. Den Labrador-Mischling. Gemütsmensch von Hund. Liebt Musik. Ruht in sich selbst. Und unter Tisch der Musiker. Bleibt dort stundenlang liegen. Was keinen stört. Nicht einmal die Musiker. Hebt nur leicht den Kopf, als plötzlich Handy klingelt. Ist das vom Gitarrero. Mitten im Liedvortrag. Macht ernstes Gesicht. Der Gitarrenspieler, nicht Robot. Sein Eheweib? Ärger im Job? Halb eins am Morgen. Hat noch Zeit bis Arbeitsbeginn. Oder was auch immer er heute vorhat.
Hebt manchmal Stimme kräftig an. Gerade so, als ob gleich Revolutionslied anstimmen würde. Von 1989? Václav Havel hängt schon an der Wand. In Holz gerahmt. Der Dichter-Präsident. Grau-schwarz gestreiftes Hemd mit vierstelliger Nummer. Könnte seine Sträflingskleidung im Gefängnis Pankrác gewesen sein.
Hochgerollte Ärmel, rechter Unterarm tätowiert, Yin-Yang-Muster, darauf beidseits„Prezident“. Macht mit links berühmtes V-Zeichen. Darunter rosafarbenes T-Shirt mit heraushängender Rolling-Stones-Zunge. Lächelt vieldeutig. War vielleicht mal Cover eines Underground-Magazins.
Raum erfüllt wohliges Gefühl. Von der Sorte: Leben ist schön! Bei Musikern. Bei Trinkern. Gerade jetzt. Gerade hier. Schade, dass Franta, der Theker, nicht mitsingt. Mit seiner tiefen Stimme.
Ondřej erklärt mir wieder sein Land. Was Tschechen gerne machen. Wenn sich endlich mal jemand dafür interessiert. In allen Details. Sogar Umweltschutz. „Kein Volk in Europa trennt Müll so exakt wie wir“, jubelt er. Warum sich tschechische Grüne dann so schwer tun, ins Parlament zu kommen, will ich wissen. Nicht einmal 1,5 Prozent bei Wahl im Herbst 2017. „Scheiß Personal“, befindet Ondřej. „Personal ist scheiße.“
Spricht ohne Punkt und Komma. Bis selbst der gutwilligste Freund der Tschechischen Republik nicht mehr zuhören mag. Beziehungsweise kann.
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Glückwunsch, Prag 4!