Urbaner Kahlschlag
Vor 120 Jahren begann die sogenannte Assanierung der Innenstadt. Dabei verschwand das historische Judenviertel fast vollständig
21. 2. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Archiv der Stadt Prag
„Assanierung. – In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanation. […] Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk vergangener Zeit.“
Regelrecht ungläubig berichtet Franz Kafka 1920 dem 17-jährigen Gustav Janouch vom Verschwinden eines sagenumwobenen Viertels. Am Rande des ehemaligen jüdischen Ghettos geboren, wuchs Kafka zur Zeit der sogenannten Prager Assanierung auf. Er wurde damit Zeuge einer der größten Umgestaltungen, die eine europäische Stadt je erlebt hat: Zwischen 1893 und 1914 wurde im Prager Zentrum eine Fläche von 38 Fußballfeldern abgerissen. Besonders betroffen von dem radikalen Eingriff war das Judenviertel. Wegen miserabler hygienischer Zustände und zunehmender Verelendung wurde der Stadtteil fast vollständig zerstört.
Vom dichten Geflecht verwinkelter Gassen, das bis heute das Bild des magischen Prag heraufbeschwört, blieb nicht viel übrig. In den zwei Jahrzehnten verschwanden allein in Josefov über 247 Gebäude; ganze Straßenzüge wurden förmlich vom Erdboden verschluckt – und mit ihnen einzigartige Zeugnisse der mittelalterlichen Architektur. Die gegenwärtige Silhouette, geprägt von herrschaftlichen Jugendstil-Fassaden und dem prächtigen Boulevard der Pariser Straße (Pařížská), ist das Ergebnis dieser Umgestaltung. Bis heute scheiden sich die Geister über die offiziellen Gründe der städtebaulichen Maßnahme. Nicht allein Prävention, sondern auch Modernisierungswahn sei ein Grund für den urbanen Kahlschlag gewesen.
Im Chaos
Gründe für den Eingriff ins Stadtbild gab es viele. Als die Stadtvertreter im Februar 1893 das Gesetz zur Assanierung verabschiedeten, beabsichtigten sie damit in erster Linie, einen „blinden Fleck“ inmitten des Stadtzentrums zu beseitigen. Seit Jahrhunderten war die Einwohnerzahl in dem Viertel bei gleichbleibend begrenztem Wohnraum kontinuierlich angestiegen – schließlich zwang man die Juden, sich in einem vom Rest der Stadt abgegrenzten Ghetto niederzulassen. Dies hatte zur Folge, dass das ohnehin über die Jahrhunderte eng bebaute Viertel immer verschachtelter wurde. Komplizierte Erbbestimmungen ermöglichten absurde Besitzverhältnisse: Einzelteile von Bauten – etwa eine Kammer oder eine Treppe – gehörten mitunter zwischen 20 und 30 Besitzern zugleich. Das Resultat ergab jenes geheimnisumwitterte, undurchsichtige Labyrinth, in dessen Gängen sich nicht nur zahlreiche Ratten, sondern auch Kriminelle tummelten.
Unter Joseph II. verschlechterten sich die Wohnzustände weiter. Zunächst kam es zwar durch das Toleranzpatent von 1849 zu einer essentiellen Aufwertung der Juden innerhalb der Gesellschaft. Das Edikt garantierte ihnen Religionsfreiheit und bürgerliche Rechte. Zugleich ernannte der Kaiser das jüdische Viertel zum gleichberechtigten, fünften Stadtteil von Prag. Ihm zu Ehren trug es fortan den Namen Josefstadt (Josefov). Für die urbane Entwicklung hatte die Aufwertung jedoch gravierende Folgen. Da es den Juden nun erlaubt war, ihren Wohnsitz frei zu wählen, verließ ein Großteil von ihnen das bisherige Domizil. Innerhalb von 40 Jahren verlor die Josefstadt 60 Prozent ihrer ansässigen Juden. Zurück blieb eine arme Unterschicht, zu der sich die zwielichtigen Gestalten des Stadtlebens gesellten. Das ehemalige Ghetto verkam zu einem zugleich schillernden wie verrufenen Rotlichtviertel.
„Was einst Judenviertel war, könnte man treffender als Armutsviertel mit orientalischem Flair beschreiben“, skizziert Kateřina Bečková, Vorsitzende des Vereins „Za starou Prahu“ („Für das alte Prag“), das Bild des verschwundenen Viertels. „Es reihten sich unzählige Spelunken an Freudenhäuser; die Straßen waren voller Trödler und Verkäufer. Auf einen Hektar Wohnfläche kamen etwa 1.822 Bewohner, mehr als das Dreifache der Bevölkerungsdichte der angrenzenden Altstadt.“ Mit dem Verfall einher ging eine drastische Verschlechterung der hygienischen Bedingungen. Es gab weder eine funktionierende Kanalisation noch ordentliche Sanitäranlagen – entsprechend hoch waren Infektions- und Seuchengefahr. Hinzu kam, dass die Polizei die Josefstadt und deren verwinkelten Gassen kaum kontrollieren und überwachen konnte.
Sukzessiver Umbau
Mochten Künstler im morbiden Charme des Viertels Inspiration gefunden haben, war er der Stadtverwaltung vor allem ein Dorn im Auge. Seit 1882 plante der Magistrat daher, den Stadtteil zu sanieren. Neben der Josefstadt waren auch Abrisse in der Altstadt, Neustadt sowie auf der Kleinseite geplant. Abgesehen von einer Erneuerung baufälliger Substanz, lockte die Möglichkeit, recht günstig an Baugrund an dieser exquisiten Lage zu kommen. Schließlich gestalteten sich die Eigentumsverhältnisse – gerade in der Josefstadt – äußerst unübersichtlich.
Die Assanierung erfolgte schrittweise. In einer ersten Etappe von 1896 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fiel der überwiegende Teil der zum Abriss freigegebenen Gebäude. Etwa 470 Bauwerke wurde zerstört, davon befanden sich die meisten in der Josefstadt, 200 weitere im Bereich der Altstadt. Von ursprünglich neun Synagogen im jüdischen Viertel wurden drei abgerissen: Zigeunersynagoge, Neue Synagoge und Großhofsynagoge; außerdem wurden 1903 Teile des jüdischen Friedhofs zerstört. Dafür ließ man 1906 die Jubiläumssynagoge erbauen. Vom ursprünglichen Judenviertel blieben nach der Assanierung lediglich die verbleibenden sechs Synagogen, ein Stück des Friedhofs und das Rathaus erhalten. In der Altstadt verschwand das im Renaissancestil errichtete „Haus zu den zwei Kamelen“ („Dům U Dvou velbloudů“), das im 16. Jahrhundert nach seinem Käufer, dem Buchdrucker und Verleger Jiří Melantrich, umbenannt wurde („Melantrichův dům“). Einzig das erhaltene Portal kündet heute in der Melantrichgasse von seinem Ursprungsbau. Ebenfalls abgerissen wurde eines der größten Bürgerhäuser, das sogenannte Kren-Haus (Krennův dům). Der mittelalterliche Bau musste weichen, da er der freien Sicht vom Altstädter Ring auf die St. Nikolauskirche (Kostel sv. Mikuláše) im Weg stand.
Einzug der Moderne
Der tiefgreifende Eingriff in die Bausubstanz blieb nicht ohne Echo. Mit dem sogenannten „Ostermanifest“, organisiert von Schriftsteller Vilém Mrštík, kritisierten zahlreiche Künstlerpersönlichkeiten das Vorhaben des Magistrats: „Durch diesen einfallslosen Schritt wurde Prag seines teuersten Schmuckstücks, seines historischen und malerischen Charakters beraubt. Stattdessen wurde die Stadt mit stumpfsinnigen Mietshäusern eines so widerlichen Geschmacks bebaut, dass man sich schämen muss, sich öffentlich zu ihnen zu bekennen.“ Zwar konnte der flammende Protest die Umgestaltung nicht verhindern. Immerhin aber bewirkte er, dass von den ursprünglich 600 geplanten Abrissen nur 470 durchgeführt wurden. Nach der ersten intensiven Phase erstreckte sich die Assanierung auch in die folgenden Jahrzehnte hinein. In den zwanziger und dreißiger Jahren konzentrierte sie sich auf das Gebiet zwischen Nationalstraße (Národní třída) und Altstädter Ring, bis 1943 auf jenes der Neustadt.
Durch den städtebaulichen Eingriff wuchs allmählich ein schicker, für damalige Verhältnisse hochmoderner Stadtteil im Bereich des ehemaligen Judenviertels heran. Dominiert wurde die Jugendstilperle von der Neuanlage der Pariser Straße, die als Hauptboulevard nach französischem Vorbild vom Altstädter Ring Richtung Nordenwesten führt. Prag wurde neben Wien damit zum Vorzeige-Prunkstück der Habsburger Monarchie. Von der verlorengegangenen Architektur blieben indes kaum Zeugnisse erhalten. Wie Bečková bestätigt, können Historiker über das Antlitz des einstigen Viertels nur spekulieren. Einig sei man sich hingegen über den architektonischen Verlust. „Hätte man auch nur einige Gassen rund um den Jüdischen Friedhof oder die Altneusynagoge erhalten, dann wäre das eine Touristenattraktion von internationalem Rang. Was wir heute im Prager Zentrum sehen, ist zwar schick und mehr als vorzeigbar, seine Bedeutung aber bleibt auf lokaler Ebene.“
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts