Rattenfängerische Schönheit
Neu herausgegeben: „Severins Gang in die Finsternis“ beschwört das alte Prag
21. 10. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert
„Severin stand im Schatten der Häuservorsprünge und dachte darüber nach, warum sein Herz klopfte. Lag es an dieser Stadt mit ihren dunklen Fassaden, ihrem Schweigen über großen Plätzen, ihrer abgestorbenen Leidenschaftlichkeit? Es war ihm immer, als ob ihn unsichtbare Hände streiften.“
Im Prag der Jahrhundertwende lebt der 23-jährige Severin. Tagsüber pflichtbewusster, doch gelangweilter Postbeamter, streift er nachts rastlos durch die Stadt. In verwinkelten Gassen, verruchten Kneipen und dubiosen Bekanntschaften sucht er seine Lebenslust zu stillen. Eine unbestimmte Sehnsucht treibt ihn umher, treibt ihn in die Arme mehrerer Frauen. Da ist Zdenka, die ihn bedingungslos liebt, ihn im Grunde genommen jedoch kalt lässt. Und da sind die Schauspielerin Karla und Susanna, Tochter eines Buchhändlers. Auch sie verfallen ihm, doch für Severin bleiben sie nur halbherzige Affären. Alles geht seinen alten Gang – bis die anzügliche Mylada in sein Leben tritt.
Parallelen zu Leppin
Paul Leppin veröffentlichte seinen Roman „Severins Gang in die Finsternis“ im Jahre 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Von Thomas Ballhausen in der Edition Atelier nun mit einem Nachwort erneut herausgegeben, erinnert das Buch an einen Schriftsteller, der im Prager Literaturbetrieb um 1900 eher ein Sonderling blieb. Wie sein Protagonist führte Leppin (1878-1945) ein Doppelleben. Während des Tages arbeitete er bei der Post- und Telegraphendirektion, nach Einbruch der Dunkelheit zog es ihn in die Spelunken und Bordelle des magischen Prag. Vor allem konservative Kreise verachteten die mitunter stark erotischen Geschichten Leppins.
Es ist weniger die Handlung – denn es passiert nicht wirklich viel – die an dem Roman fesselt. Es ist die Atmosphäre eines vergangenen Prag, die Leppin heraufbeschwört und den Leser mit zurücknimmt in jene Tage, als er selbst in den Straßen der Stadt nach Leben suchte. „Mein tiefstes Erlebnis ist Prag geblieben. Sein Zwiespalt, sein Geheimnis, seine rattenfängerische Schönheit haben meinen dichterischen Versuchen immer aufs Neue Antrieb und Inhalt gegeben“, bekannte der Schriftsteller einst selbst. Und es ist das Stimmungsbild eines ziellosen jungen Mannes, der in seinem Gegenüber vergeblich nach Erfüllung sucht. Eines Menschen, der sich fühlt „wie einer, der mit der Schaufel in einer Grube steht. Er gräbt und schaufelt, aber der feine, bewegliche Sand rinnt immer wieder nach und verschüttet die Grube“.
Paul Leppin: Severins Gang in die Finsternis. Edition Atelier, Wien 2015, 112 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-903005-13-6
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?