Reflexion der kultivierten Seele
Im Kinsky-Palast sind Meisterwerke zeitgenössischer japanischer Kalligraphie zu bestaunen
21. 8. 2013 - Text: Christian Müller-Breitenkamp, Foto: Národní galerie v Praze
Die Kalligraphie, die Kunst des Schönschreibens, hat ihren Ursprung in der Abschrift heiliger Texte. Bis heute prägt sie in asiatischen Ländern, anders als in unserem Kulturkreis, wo Computer und Druckmaschinen die Kalligraphie weitgehend verdrängt haben, das nationale Kunstverständnis maßgeblich mit. Den Grundstein für die feste kulturelle Verankerung der Kalligraphie in Fernost legte bereits Konfuzius, der darin die Reflexion einer kultivierten Seele zu erkennen glaubte.
Grund genug für die Sammlung orientalischer Kunst der Nationalgalerie Prag, dieser uns so fremden Schreibform eine eigene Ausstellung zu widmen. Bis Mitte September sind im Kinsky-Palast am Altstädter Ring die Werke von über 60 Künstlern zu sehen, unter ihnen Watanabe Rei, Inamura Undo oder Tosen Usuda. „Shodo“, der „Weg des Schreibens“, wie die japanische Kalligraphie genannt wird, gilt im Land der aufgehenden Sonne vor allem wegen des Einsatzes von Pinsel, Tusche, Tinte, Papier oder Seide als Malerei, obwohl eigentlich die kunstvoll-ästhetische Darstellung von Gedichten und literarischen Texten im Vordergrund steht.
Die in Prag präsentierten Arbeiten wurden extra für diese Schau ausgewählt und bieten eine Vielzahl verschiedener Interpretationsmöglichkeiten. Das liegt vor allem an der jahrhundertelangen Geschichte der Kalligraphie, in deren Verlauf sich ein komplexes Netzwerk verschiedener Stile entwickelt hat. Besonders bedeutsam sind die Stile „kanji“ zur Aufschrift chinesischer Schriftzeichen, „kana“ zur Darstellung japanischer Buchstaben oder „hentaigana“, eine Kreuzung der beiden Schriften und deren phonetischer Systeme.
Abstrakte Moderne
Die Vielseitigkeit der verschiedenen Schreib- und Maltechniken sowie Ausdrucksformen, die sich in Japan seit dem sechsten Jahrhundert entwickelt haben, werden auch von den zeitgenössischen Exponaten aufgegriffen. Ein Beispiel dafür ist „Bunch of Flowers“ („Blumenstrauß“) von Tosen Usuda. Anscheinend völlig frei von traditionellen künstlerischen Konventionen sind auf einem schwarzen, goldumrandeten Fächer ein paar goldene und blaue Farbelemente angebracht, die lediglich im entferntesten Sinne an die Darstellung eines Blumenstraußes erinnern. Die abstrakte Moderne hält auch im konservativen Japan Einzug.
Allerdings sind bei der Betrachtung der verschiedenen Kunstwerke häufig verbindende, stilbildende Elemente erkennbar. Ausschlaggebend dafür ist der altehrwürdige, immer gleichbleibende „Werkzeugkasten“: das großformatige Papier, die Kombination aus textlicher und visueller Information und der dynamische Pinselstrich. Dieser wird ganz bewusst eingesetzt, um eine bestimmte Oberflächenstruktur zu erzeugen. Der tschechische Maler Václav Špála stellte einmal fest, dass der künstlerische Ansatz der Kalligraphie und die japanische Schrift nicht weit auseinander lägen. Da in Japan meist mit dem Pinsel geschrieben wird, ergibt sich ein typisches Schriftbild, dessen Eigenheiten, wie zum Beispiel die bereits erwähnte Oberflächenstruktur auch in der Kalligraphie eine wichtige Rolle spielen.
Wie die praktische künstlerische Umsetzung dieser hier etwas theoretischen Abhandlung aussieht – davon sollten sich nicht nur japanophile oder sinologie-interessierte Kunstfreunde überzeugen. Es lohnt sich, einen Blick auf diese faszinierende und vielseitige Kunstrichtung zu werfen, solange diese besonderen Exponate in Prag zu sehen sind.
Japanische Meister der Kalligraphie, Kinsky-Palast (Staroměstské náměstí 12, Prag 1), geöffnet: Di.–So. 10–18 Uhr, montags geschlossen, Eintritt: 50 CZK (ermäßigt 30 CZK), bis 8. September
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