Regieren am seidenen Faden
Premier Nečas übersteht Vertrauensabstimmung – Senat befindet über Steuergesetze – Großdemonstration auf dem Wenzelplatz
14. 11. 2012 - Text: Marcus HundtText: mh; Foto: čtk
Steuerpaket gebilligt, Vertrauensfrage gewonnen. So einfach lassen sich die Ergebnisse der wichtigen Abstimmung im tschechischen Abgeordnetenhaus am Mittwoch vor einer Woche zusammenfassen. Von einem Schlussstrich unter die umstrittene Reform, die das Parlament und vor allem die regierenden Bürgerdemokraten (ODS) von Premier Petr Nečas tief gespalten hatte, kann aber keine Rede sein. Denn nun wandern die Sparpläne in den von den oppositionellen Sozialdemokraten (ČSSD) dominierten Senat. Dass die beschlossenen Steuererhöhungen dort abgelehnt werden und dem Abgeordnetenhaus – vermutlich im Dezember – erneut zur Abstimmung vorliegen, gilt als wahrscheinlich. ČSSD-Chef Bohuslav Sobotka kündigte an, „alles dafür zu tun“. Sollte die Rechnung aufgehen, so kann das Steuergesetz nur mit einer absoluten Mehrheit von mindestens 101 Stimmen verabschiedet werden. Genau so viele Abgeordnete hatten sich am Mittwoch für den Regierungsbeschluss ausgesprochen. Jedoch war dieses Ergebnis einzig dem Einlenken der sechs sogenannten „Rebellen“ aus den Reihen der ODS zu verdanken, die erst am Dienstagabend – also wenige Stunden vor der Abstimmung – ihren Widerstand gegen die Reform aufgaben. Während Petr Tluchoř, Marek Šnajdr und Ivan Fuksa ihr Mandat niederlegten und sich Radim Fiala seiner Stimme enthielt, gaben Jan Florián und Tomáš Úlehla schließlich klein bei und votierten für das neue Gesetz, das Anfang September in erster Lesung gescheitert war.
„Demokratie sieht anders aus“
Der Regierungsvorschlag sieht unter anderem vor, die Mehrwertsteuersätze ab 1. Januar 2013 um einen Prozentpunkt auf 15 beziehungsweise 21 Prozent zu erhöhen. Erst zu Beginn dieses Jahres war der ermäßigte Steuersatz von 10 auf 14 Prozent angehoben worden. Dem Plan der Regierung, damit das Haushaltsdefizit unter die Drei-Prozent-Marke zu drücken und dem wirtschaftlichen Abschwung entgegenzuwirken, stehen nicht nur Oppositionspolitiker und Wirtschaftsexperten kritisch gegenüber. Ein Bündnis aus Gewerkschaftern und Bürgerverbänden hat für den 17. November – der „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“ soll an das Ende des kommunistischen Regimes erinnern – zu einer Großdemonstration auf dem Prager Wenzelsplatz aufgerufen. Bereits im April dieses Jahres hatten knapp 100.000 Menschen an selber Stelle gegen die Sparpolitik der Regierung protestiert. Mit dem Motto „Demokratie sieht anders aus“ („Demokracie vypadá jinak“) wollen die Veranstalter bewusst den Bezug zwischen der Samtenen Revolution im Jahr 1989 und der aktuellen Situation im Land herstellen. Die Leute werden ihrer sozialen Sicherheit beraubt, staatliche Leistungen gekürzt, Reformen ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen – „das sind die Gründe, warum wir am Samstag auf die Straße gehen“, erklärt Jana Kašparová, die Sprecherin des Bündnisses „Stop vládě“.
Die Regierungsmitglieder bekommen solche Anschuldigungen täglich zu hören. So bezeichnete Kateřina Klasnová, Vorsitzende der VV-Fraktion, den Finanzminister Miroslav Kalousek (TOP 09) als „Dr. Jekyll und Mr. Hyde der tschechischen Politik“, weil er die Steuern zunächst gesenkt, zu guter Letzt jedoch deutlich erhöht hat. Der Sozialdemokrat Adam Rykala wirft der Regierung komplettes Versagen vor: „Sie haben die tschechische Politik an den absoluten Tiefpunkt geführt. Es wird sehr schwer werden, das Vertrauen der Menschen in Politik und Demokratie wiederherzustellen.“ Bürgerdemokrat Fiala, der sich seiner Stimme am Mittwoch enthalten hatte, prophezeite kurz nach dem Votum schwere Zeiten. Das beschlossene Steuerpaket würde überhaupt nichts lösen, vor allem nicht die wirtschaftlichen Probleme des Landes.
Ein Blick ins Steuerpaket
1. „Solidaritätsbeitrag“ für Vielverdiener (2013–2015)
2. Begrenzung der Ausgabenpauschale bei Selbständigen
3. Aufhebung des Grundfreibetrags für Rentner (2013–2015)
4. Erhöhung der Quellensteuer auf im Ausland erzieltes Einkommen
5. Erhöhung der Mehrwertsteuersätze auf 15 und 21 Prozent
6. Erhöhung der Immobilienübertragungssteuer
7. Abschaffung des Agrardiesels
8. Aufhebung der maximalen Steuerbemessungsgrundlage (2013–2015)
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“