Robert und das richtige Leben
Mit der Organisation „Pragulic“ kann jeder für 24 Stunden obdachlos werden
17. 9. 2014 - Text: Daniel NagelstutzText: Daniel Nagelstutz; Foto: APZ
Robert läuft zielstrebig auf einen gelben Müll-Container zu. Der leicht untersetzte Mann trägt ein buntes Stirnband im zerzausten Haar und eine dunkelblaue Fleecejacke mit dem Logo der Heilsarmee. Sein Haar ist leicht ergraut, er hat einen Dreitagebart. Er bückt sich tief in die Tonne und wühlt konzentriert im Plastikmüll, fischt eine leere Bierdose, eine Zeitung und ein paar Getränkekartons heraus. „Diese Idioten zerstören das ganze System. Wir sind noch nicht so weit wie in Deutschland, wo die Mülltrennung funktioniert“, beschwert sich Robert, während er den Abfall in die dafür vorgesehenen Tonnen wirft. Diese Szene wird sich in den kommenden 24 Stunden noch öfters wiederholen. Nur die Zeitung behält er für sich: „Ich lese so gerne.“
Der Mann, der neben Tschechisch auch Englisch, Russisch und Deutsch spricht, ist einer von neun obdachlosen Stadtführern, die für die Organisation „Pragulic“ arbeiten. Sie bieten zum Beispiel Stadtführungen aus der Perspektive eines Obdachlosen an. Wer sich etwas mehr Zeit für einen tieferen Einblick in das Leben auf der Straße nehmen möchte, kann mit „Pragulic“ aber auch für 24 Stunden selbst ein Obdachloser werden. „Was es bedeutet, auf der Straße zu leben, lässt sich nur nachvollziehen, wenn man es selbst versucht hat“, lautet die Philosophie der Organisatoren. Mit ihrem Angebot hoffen sie, Vorurteile gegenüber Menschen abzubauen, die auf der Straße leben. Wer einmal erlebt hat, was es heißt, kein Dach über dem Kopf zu haben, wird Obdachlosen künftig anders begegnen, so die Theorie.
In der Praxis beginnt die Erfahrung bürokratisch. Wer 24 Stunden obdachlos sein möchte, muss sich vorher bewusst sein, worauf er sich einlässt. Im Gespräch mit den Leitern der Organisation verpflichtet man sich, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben. „Ich bin mir der extremen Natur des Angebotes bewusst und weiß, dass jederzeit unerwartete Situationen auftreten können“, ist auf dem Formular zu lesen. „Pragulic“ ist kein Spiel vor nachgebauter Kulisse, sondern ein Eintauchen in das Leben auf der Straße, mit all seinen Gefahren. „Bei einem jungen blonden Mädchen waren wir uns nicht sicher, ob wir das verantworten können“, erinnert sich Ondřej Klugl, Mitbegründer der Organisation. „Aber bisher hat es noch jeder überlebt. Auch die junge Dame“, fügt er hinzu. Bisher sei die Nachfrage zu diesem Angebot für stolze 3.600 Kronen zurückhaltend gewesen, so Klugl. Nur ausländische Journalisten und ein tschechischer Soziologe haben bisher teilgenommen.
Katzenwäsche in der Bahn
Der Reporter der „Prager Zeitung“ ist morgens um 8 Uhr am Hauptbahnhof mit „Pragulic“ verabredet. Dort warten Ondřej und Robert. Beide grinsen: „Na, mal schauen, ob du es überstehen wirst. Du kannst die Aktion jederzeit abbrechen“, sagt Ondřej. Er hält eine blaue Mülltüte mit gebrauchter Kleidung bereit. Hose, Pullover und Jacke sind gegen Altkleidung einzutauschen. Das gehört zur Verwandlung, um den befristeten Alltag auf der Straße authentischer erleben zu können. Die beige Hose ist sehr weit, die schwarze Jacke zu kurz, darunter schaut ein hellblauer Strickpullover hervor. „Deine Schuhe darfst du behalten. Sie sind die wichtigsten Kleidungsstücke für Obdachlose“, weiß Ondřej zu berichten.
Roberts Alltag, in den er den Reporter für 24 Stunden mitnimmt, beginnt um 8 Uhr morgens mit der Essensausgabe an Bedürftige in der Heilsarmee. Den Soldaten Christi, wie sich die Mitglieder der Heilsarmee selbst nennen, ist der Alkohol- und Tabakkonsum untersagt. Robert arbeitet für die Heilsarmee. Auch er verzichtet auf Alkohol und Tabak. Im Anschluss an die Essensausgabe besucht er Kranke und Alte in ihren Wohnungen, liefert Lebensmittel an sie aus und erkundigt sich nach ihrem Wohlbefinden. Um Geld bettelt Robert nie. Er will es sich selbst verdienen. Er lebt von dem, was er bei „Pragulic“ verdient. Tagsüber sammelt er außerdem Papier aus Mülltonnen, um es in der Recyclinganlage für ein paar Kronen zu verkaufen. Den restlichen Tag verbringt Robert an Bahnhöfen und in Zügen, die innerhalb des Stadtgebiets verkehren. Zu seinen nächtlichen Schlafplätzen gibt sich Robert verschämt: „Ach jo … In den Straßenbahnen wird nachts nur selten kontrolliert. Aber wenn meine Eltern mal in der Stadt sind, dann schlafe ich mich bei ihnen so richtig aus.“
Nach kurzer Inspektion des ersten Müllcontainers am Bahnhofsvorplatz steigt Robert in eine der blau-weißen S-Bahnen mit roten Türen in Richtung Smíchov. Während der siebenminütigen Fahrt versichert er, dass die Zeit ausreiche, um auf der Toilette eine Katzenwäsche zu machen oder seine Notdurft zu verrichten. Aber nicht nur deshalb fährt er mit dem Zug. Robert besitzt eine Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr in Prag. „Zugfahren ist für mich immer ein Abenteuer“, schwärmt er. An den Bahnhöfen Smíchov, Masarykovo nádraží, Na Knížecí und am Hauptbahnhof kennt er jeden einzelnen der Mülleimer, in welche die Lokführer ihre Bremsprotokolle werfen.
Deutsch dank Bravo-Heften
Bremsprotokolle, Züge und überhaupt der öffentliche Nahverkehr sind Roberts Leidenschaft. Er kennt alle Fahrpläne für die Hauptstadt, kann die Codes auf den Fahrkarten entziffern und Bremsprotokolle decodieren, kennt Lichtsignale, Triebfahrzeuge und offenbar das gesamte Zug- und Bahnhofspersonal Prags. Deutsch hat er mit Hilfe von Bravo-Heften und aus einem Deutschbuch für Eisenbahner gelernt, daher beherrscht er Vokabeln wie „Kopfbahnhof“ auch in der Fremdsprache. Am Bahngleis gibt er Reisenden Auskunft über Zuglinien und Verspätungen. Während der Fahrt sammelt er Müll, um die Züge rein zu halten, das nennt er seine Arbeit. Er spricht unaufhörlich über die Eisenbahn, von sich dagegen gibt er wenig preis. Noch einmal geht es zur Heilsarmee, Robert schlingt den zerkochten Blumenkohl mit Kartoffeln hinunter, dazu gibt es kalten Borschtsch und eingelegte Kirschen. Robert würde sich am liebsten einmal ein richtiges Schnitzel leisten können, sagt er.
Schätzungen zufolge leben in Prag etwa 4.000 Obdachlose, mehr als zwei Drittel von ihnen schlafen auch in den Wintermonaten auf der Straße. Noch ist Spätsommer, dennoch wird es mit der Zeit anstrengend, wie ein Obdachloser zu leben. Tagsüber zeigt die Kleidung ihre Wirkung. Man schämt sich, die Leute schauen. Es begegnen uns Menschen, die in einer anderen Welt zu leben scheinen: Biergartengäste, die den lauen Spätsommerabend genießen, Kneipengänger, die in der Tram Fastfood essen, während man sich mit einem Apfel vom Baum begnügen muss. Richtig unangenehm wird am Abend die Müdigkeit. Dagegen hilft die Tram ein wenig. Mit den Nachtlinien 52 und 54 beginnt die ziellose Fahrt. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr sind viele betrunkene Touristen und Obdachlose unterwegs. Später wird es ruhiger.
Die Plastiksitze sind unbequem. Man muss sich nach vorne über den Sitz beugen, um überhaupt schlafen zu können, und an jeder Endstation aussteigen. Manchmal begleiten Polizisten die Tram, um die Eingeschlafenen zu wecken. Es ist kalt, finster und neblig. Man kann in dieser Situation gut nachvollziehen, warum man auf der Straße Alkohol trinkt. Er macht müde und hilft, alles andere zu vergessen. Robert steht da und singt. Er singt gut und kann Noten lesen. Es ist beruhigend, ihm zuzuhören. Robert mag Opern. Auf einmal stimmt er eine Melodie aus der „Fledermaus“ an. „In der Operette verliert der Held alles und bekommt es am Ende doch wieder zurück“, sagt Robert. „Im richtigen Leben ist das anders.“
Daniel Nagelstutz
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