Der verflüchtigte Duft nach Obst
Zu Besuch in Zubrnice. Auf den Spuren des ursprünglichen Böhmischen Paradieses, wo einst der Lenz die Fluren schmückte
27. 10. 2019 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Jiří Peňás (Blick auf das Böhmische Mittelgebirge)
Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“
Aus dem nahen Ústí nad Labem (Aussig) mit dem Bus angekommen, quartierte sich in der Herberge von Zubrnice (Saubernitz) eine Gruppe von Männern ein, die die Fünfzig schon überschritten hatten. Sie waren alte Freunde, die ungefähr einmal alle halbe Jahre zusammen irgendwohin fahren, sich am Abend ins Gasthaus setzen, übernachten, vom frühen Morgen an durch die Landschaft wandern, sich über alles Mögliche unterhalten, unterwegs einige Male in Streit geraten und sich dann wieder vertragen. Vielleicht haben sie sich auch auf scheue Weise gern, vor allem aber haben sie sich aneinander gewöhnt.
Sie teilten also die Zimmer unter sich auf, der Anführer Petr Placák [tschechischer Historiker und Publizist; vor 1990 engagierter Regimegegner; Anm. PZ] nahm das prominente Einzelzimmer in Beschlag, die übrigen gingen bescheiden auf ihre Gruppenzimmer. Als Zeit zum Aufbruch war vier Uhr nachmittags vereinbart; sie wollten auf den Zinkenstein (Buková hora) hinaufwandern. Die meisten waren zum ersten Mal in dem Dorf. Einige aber kannten es aus Filmen, die dort gedreht wurden. Das ausnahmsweise gut erhaltene Sudetendorf bot ideale Kulissen für eine „typisch tschechische“ dörfliche Umwelt, voll von charakteristischen Bauwerken, Wohnhäusern und Scheunen, Fachwerkbauten und Blockhäusern, mit vornehm bemalten Giebeln versehen und mit blendend weißem Kalk gestrichen. Mit kleinen Kapellen und einem hübschen Kirchlein im Barockstil.
Auch der Nepomuk auf dem Dorfplatz wirkte so tschechisch wie aus einem Bild von Josef Lada gefallen [Josef Lada, 1887–1957, war ein tschechischer Illustrator und Kinderbuchautor; außerhalb Tschechiens vor allem durch seine Illustrationen zum Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek bekannt; Anm. PZ]. Aus solchen Dörfern ist doch das eigentümlich Tschechische geradezu entsprungen.
Einen aus der Gruppe ärgerte das. Er betrachtete das als kulturellen Diebstahl (heute verwendet man dafür das modische Wort kulturelle Aneignung, wobei es sich eher auf Indianer und eingeborene Kulturen bezieht, und stehlen tun immer die Weißen), mehrmals hat er darüber auch geschrieben, etwa als er einst den Film von Filip Renč Hlídač č. 47 (Bahnwärter Nr. 47) rezensierte. Der Film folgt Motiven des gleichnamigen Romans von Josef Kopta aus dem Jahre 1926, nur dass Kopta den Hergang in die Gegend von Louny (Laun) und in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ansiedelte; aber bei Louny ließe sich kein so fotogenes Dorf finden, so dass für den Film Zubrnice gewählt wurde.
Zu der Zeit, als der Romanheld, Bahnwärter František Douša, aus Verzweiflung fast den Verstand verlor, hieß der Ort noch Saubernitz; und obwohl dieser Name den slawischen Ursprung der Ortschaft verriet (angeblich jedoch nicht von zubr = Auerochse, sondern von dem alttschechischen zubrá, das čistá = sauber bedeutet), lebte hier vor dem Krieg nur ein einziger Tscheche, und zwar deswegen, weil er sich eine Deutsche aus dem Dorf zur Frau genommen hatte. Und die wurde später als einzige Deutsche nicht aus dem Dorf vertrieben. Ansonsten lebte dort nach 1946 niemand mehr von den 527 Einwohnern aus der Vorkriegszeit (Stand aus dem Jahre 1930). Ebenso wie andere Dörfer im Sudetengebiet war Saubernitz nicht, wie oft behauptet wird, „überwiegend“ von Deutschen bewohnt, sondern die Einwohner waren „nur“ und „ausschließlich“ Deutsche; in den Städten waren die Verhältnisse etwas anders. Nach dem Krieg wurde die Bevölkerung von Saubernitz komplett ausgetauscht; im Jahr 1950 lebten dort 228 Menschen, also weniger als die Hälfte von vor dem Krieg, heute sind in Zubrnice 202 Einwohner gemeldet.
In der Herberge waren an der Wand Reproduktionen alter Ansichtskarten angebracht, auf denen „Gruss aus Saubernitz“ stand. Am interessantesten war darunter eine Totalansicht des Dorfes, wie es sich an den Hang des Zinkensteins schmiegte, der vor etwa hundert Jahren nahezu bis zum Gipfel mit Obstwiesen bedeckt war, die auf den Schwarz-Weiß-Fotografien wie weiß besprenkelte Felder aussahen. Jetzt ist fast alles bis an den Rand des Dorfes überwuchert, bis ins Tal reicht nun der Wald, von dem es heute unvergleichlich mehr gibt als vor hundert Jahren. Allenfalls breiten sich jetzt dort, wo tausende hochstämmige Birn- und Apfelbäume standen, Wiesen und Weiden aus, freilich ohne Vieh. Das Böhmische Mittelgebirge (České středohoří), wie übrigens die meisten der böhmischen Berge, war landwirtschaftlich intensiv bewirtschaftet, und besonders an den Südhängen der vulkanischen Hügel war jeder Quadratmeter genutzt.
Man stelle sich vor, im Frühling wären die Abhänge überflutet von blühenden Bäumen, von denen der summende Ton von Bienen bei der Bestäubung ausginge, und weiße Blütenblätter regneten auf die Landschaft wie Federn von Engeln. Denn dies war ursprünglich das Böhmische Paradies, Český raj, das tschechische Wanderfreunde später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, aus nationalistischen Gründen (im Böhmischen Paradies können doch keine Deutschen wohnen!) weiter östlich in die Gegend um die Burgruine Trosky „umsiedelten“.
Aber der blühende Garten Eden, wo „der Lenz die Fluren schmückt“, der lieblichste Anblick Böhmens, den der Dichter Josef Kajetán Tyl in der tschechischen Nationalhymne ein wenig in Anlehnung an Goethe („Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn …“) besingt, dieses Paradies war genau hier gelegen, zwischen Litoměřice (Leitmeritz), Úštěk (Auscha) und Česká Lípa (Böhmisch Leipa), wo sich die Elbe durch die Porta Bohemica zwängt, unweit von Ústí nad Labem, dieser – wie die Freunde fanden – am schönsten gelegenen größeren Stadt Böhmens, dieser verstaubten Industriestadt, auf die sie zu Beginn ihres Ausflugs vom Schlösschen Větruše (Ferdinandshöhe) hinunterblickten und die einer von ihnen als böhmisches Rio de Janeiro bezeichnete.
Bis zur verabredeten Zeit blieben einige auf ihrem Zimmer, andere erkundeten das Dorf. Als sich die Freunde dann auf dem Dorfplatz trafen, um sich zum Zinkenstein aufzumachen, zeigten sich viele erstaunt, sogar ein wenig beklommen wegen der riesigen Ausmaße der Häuser und Scheunen: Solche abweisenden Hallen haben die Tschechen sich nicht gebaut, das sind nicht unsere Wochenendhäuschen, die im Vergleich eher winzig erscheinen und fast auf die flache Hand passen, meinte der Schriftsteller Jachým Topol [tschechischer Dichter, Publizist, Dramaturg; einige Romane von ihm sind auch ins Deutsche übersetzt worden; Anm. PZ].
Entweder waren die Deutschen so zahlreich, oder sie waren so sehr besessen vom Raum, dass sie alles dreimal größer bauen mussten. Ein anderer bemerkte, diese Häuser seien gleichzeitig so etwas wie kleinere Fabriken oder Manufakturen gewesen und hätten nur zum Teil zum Wohnen gedient, zum größeren Teil habe es sich jedoch um Werkstätten und Lager gehandelt. Vor allem waren darin Trockenkammern untergebracht, zum einen für Hopfen, der außerordentliche Erträge abwarf und auf den niedriger gelegenen Feldern schon angebaut wurde. Doch hauptsächlich lagerte man dort Obst, Äpfel und Birnen der unterschiedlichsten Sorten; das Obst transportierte man dann nach Aussig, zunächst mit Pferdefuhrwerken und später, ab dem Jahre 1890, mit der Eisenbahn nach Großpriesen (Velké Březno; der regelmäßige Bahnverkehr wurde 1978 eingestellt) und von dort weiter an der Elbe entlang überallhin in Europa, vielleicht sogar in alle Welt, genau weiß ich das nicht. Jedenfalls war das hier ein berühmtes Obstgebiet, und die Gebäude mussten von Obstduft getränkt gewesen sein, so dass man sich vorstellen kann, wie es hier nach Strudel roch oder nach Most oder Birnenschnaps, und manch einer mag dagegen allergisch gewesen sein und konnte den Geruch nicht ausstehen.
Blick auf Zubrnice (Saubernitz) | © Jiří Peňás
Etwa die Tschechen, die nach dem Krieg herkamen, warf jemand ein … Sie fällten die Bäume, aus den Obstwiesen machten sie zunächst Weiden, auf die sie die Kühe trieben; für diese bauten sie Riesenställe, womit sie allerdings das Wasser verdarben. Da auch die Kühe viel Arbeit machten, ließen sie die Weiden überwachsen, während unterdessen die Weiler auf den Hügeln verödeten. Aus den verlassenen Häusern, die sie Bruchbuden nannten, holten sie die Balken, um Brennholz zu gewinnen, und so stürzten allmählich viele Gebäude ein, für die es vorher nicht möglich war, neue Bewohner zu finden. Die hätten aber ohnehin nicht gewusst, was sie mit so großen und so kompliziert gebauten Häusern anfangen sollten und wie man sie erhalten könnte.
Als die Deutschen in den sechziger Jahren begannen, diese Gegend zu bereisen und zu schauen, was aus ihrer alten Heimat geworden war, ließen die „Organe“ der Partei die verfallenden Häuser lieber ganz abreißen, damit die Schande weniger sichtbar wäre – aber dennoch muss das ein Anblick gewesen sein … als ob Barbaren einen Landstrich erobert hätten. Einiges konnte aber doch noch bewahrt werden, besonders als sich das Datschenwesen ausbreitete; aber dies war schon eine andere Art von Existenz, etwas nur fürs Wochenende und für ein paar Sommermonate – ein vollwertiges Dorfleben lässt sich darauf nicht aufbauen.
Als der Niedergang am schlimmsten war, irgendwann in der Mitte der siebziger Jahre, beschlossen in Zubrnice ein paar Leute, überwiegend Historiker aus dem Museum von Ústí nad Labem, dass gerettet werden muss, was noch zu retten ist. Zwar war seit Kriegsende ein Viertel der Gebäude verschwunden, aber immerhin war der Kern der Ortschaft erhalten, wenn auch ausgerechnet den kostbarsten Bauwerken der Abriss drohte, allen voran der Maria-Magdalena-Kirche, die ausgeplündert war, wie übrigens die meisten Gotteshäuser in der Region. So kam der Gedanke auf, den Häusern in Zubrnice Bauten aus der Umgebung hinzuzufügen, um die wertvollste Architektur zu erhalten.
Auf diese Weise entstand in Zubrnice nach und nach ein Freilichtmuseum, das im Jahr 1987 eröffnet wurde. Das Hauptverdienst daran kommt dem Denkmalpfleger František Ledvinka zu. Ihm war es gelungen, die „Organe“ davon zu überzeugen, dass es sich um eine erhaltenswerte Architektur handelt. Das war am ehesten dadurch möglich, dass man kaum Worte darüber verlor, wer diese Architektur geschaffen und wer sie einmal bewohnt hatte, und stattdessen das Wort „volkstümlich“ oder „volksnah“ verwandte.
Der erste Name des Freilichtmuseums war „Museum der Volksarchitektur“, jetzt trägt es die Bezeichnung „Ensemble volksnaher Bauten Zubrnice“. Die Bauten stammen aus verschiedenen Orten des Böhmischen Mittelgebirges, dieser den Romantikern liebsten Landschaft: So gibt es hier eine Scheune aus Suletice (Sulotitz), einen Speicher in Blockbauweise aus Lukov (Lukau), einen Wagenschuppen aus Řepčice (Rübendörfel), ein Blockhaus aus Loubí (Laube), einige Mühlen aus dem Tal des Wiesenbachs (Luční potok) – wo im 19. Jahrhundert zwanzig davon hintereinander standen – und mitten auf dem Dorfplatz findet man einen schönen Holzbrunnen aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert, der aus Střížovice (Strizowitz) hierhin versetzt wurde. Das alles sind Spuren des Volkes, das hier lebte und den Landstrich bis zur Vollkommenheit emporhob, aber dann jenen historischen und schicksalhaften Fehler beging, oder was das war, und quasi über Nacht verschwand.
Auf dem Weg zum Zinkenstein hinauf, wo die Gruppe mehrmals auf Ruinen untergegangener Dörfer stieß, entspann sich die bekannte Debatte, was wohl geschehen wäre, wenn die Deutschen hätten hier bleiben können; aber das führte zu nichts. Abends im schmucken Gasthaus unterhielten sie sich wieder über normale Sachen.
Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Zaniklá vůně štrúdlu v Zubrnicích. Po stopách původníjo Českého ráje v kraji, kde se skvěl jara květ“ in der Ausgabe 20 vom 16. Mai 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.
Sehr schöner Reisebericht über diese zauberhafte Landschaft des böhmischen Mittelgebirges. Besonders der Rückblick auf die historische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung nach der Vertreibung der deutschsprachigen Böhmen nach 1945 ist sehr ehrlich und treffend. Ich bin seit fast 20 Jahren öfter dort auf den Spuren meiner Vorfahren unterwegs und jedesmal begeistert von der Landschaft und den kleinen Dörfern in den Bergen. Leider ist die touristische Infrastruktur immer noch sehr dünn, sobald man das Elbtal verlässt, obgleich verschiedene Bemühungen erkennbar sind.
Saubernitz selbst ist ein schönes Beispiel dafür, kulturelle Spuren zu retten und der Nachwelt zu erhalten. Bei meinen zurückliegenden Besuchen habe ich beobachtet, dass zunehmend immer mehr Bewohner – vor allem der jüngeren Generation – auch sehr viel Aufmerksamkeit der Erhaltung der noch vorhandenen alten Gebäude schenken und diese mit viel Liebe restaurieren.
Besonders interessant und treffend fand ich den Hinweis auf die Bezeichnung „Böhmisches Paradies“ und deren „Verschiebung“ nach Osten in das ebenfalls sehr schöne Gebirge „Český ráj“ zwischen Turnau und Jitschin, welches allerdings im Unterschied seit Jahrhunderten tschechisch besiedelt ist.
Auch die verschiedenen Linien meiner Vorfahren trafen sich letztlich am Ende des 19. Jahrhunderts – wie auch viele Tschechen aus den inneren Landesteilen – immer auf der Suche nach Arbeit in der wirtschaftlich aufstrebenden Industriestadt Aussig/Usti nad Labem. Ein Teil behauptet sich jedoch über 100 Jahre in Libochowan als Schuhmacher und Obsthändler . Ein anderer Teil kam als Wandergesell aus Neudörfel am Geltschberg über Proboscht und Taschow nach Schreckenstein, wo er dann mit Familie gegenüber der Ferdinandshöhe ein Haus kaufte und ein Geschäft eröffnete.
Ich danke Herrn Jiří Peňás für den Artikel und Herrn Josef Füllenbach für die Übersetzung ins Deutsche.