Schiefe Zustände

Schiefe Zustände

Über ein halbes Jahr gab ANO im Rathaus von Ústí nad Labem den Ton an. Nach einem Putsch in der eigenen Partei wurde der Ortsverband nun aufgelöst

8. 7. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Ondřej Kořínek

Meinungsverschiedenheiten innerhalb politischer Parteien sind nichts Ungewöhnliches. Es bilden sich linke und konservative Flügel, Senioren-, Minderheiten- und Jugendvertretungen, alle mit ihrer eigenen Agenda, die jedoch normalerweise im Rahmen einer ideologischen Leitlinie verfolgt wird.
Dass bestimmte Themen und Personalien die Gemüter derart erregen, dass einige Fraktions­mitglieder kurzerhand zur Opposition überlaufen und die amtierende Koalition der eigenen Partei stürzen wollen, ist allerdings selten. Genau das ist jüngst in der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem (Aussig) passiert. Der stellvertretende Regierungschef und ANO-Vorsitzende Andrej Babiš sprach von einem Putsch – und löste die lokale Organisation der Partei am 28. Juni kurzerhand auf. Im neu gewählten Stadtrat sitzen fortan zwölf parteilose Abgeordnete.

ANO begreift sich nicht als politische Partei, sondern als „Bewegung“. Das Akronym steht für „Akce nespokojených občanů“, auf Deutsch „Bewegung unzufriedener Bürger“. Unzufrieden waren in Ústí nad Labem auch die Politiker selbst: Bereits bei der Verabschiedung des Haushalts, wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages mit der Bürger­initiative „Pro! Ústí“ im Oktober vergangenen Jahres, zeigten sich innerhalb der ANO-Fraktion grundlegend verschiedene Auffassungen. Trotz einer klaren Stimmenmehrheit im Stadtrat wurde der Haushalt für 2015 erst gebilligt, nachdem bestimmte Forderungen der Opposition erfüllt waren. ANO hatte bei den Kommunalwahlen im Herbst 12 von 37 Mandaten im Stadtrat gewonnen, die Initiative „Pro! Ústí“ kam auf insgesamt acht. Zum Bürgermeister wurde der Programmierer Josef Zikmund (ANO) gewählt. Das Wahlergebnis spiegelte die Unzufriedenheit mit den seit 2010 regierenden Sozialdemokraten (ČSSD) wider, die immer wieder für mafiöse Zustände in der Stadt verantwortlich gemacht wurde.

Visionäre gegen Hausmeister
Die Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ vergleicht den Konflikt, der sich nach der Wahl im Stadtrat – aber auch innerhalb der neuen Koalition – entwickelte, mit einer Auseinandersetzung zwischen „Visionären und Hausmeistern“. Letztere werden demnach vor allem von der Opposition aus Sozial- und Bürgerdemokraten (ODS) verkörpert und auch von der kommunistischen Partei (KSČM) unterstützt. Die „Hausmeister“ stehen laut „Mladá fronta Dnes“ für das Instandhalten des „alten Systems“ in der Lokalpolitik von Ústí nad Labem. Die „Visionäre“ finden sich vor allem in den Reihen der Bewegung „Pro! Ústí“ mit dem Vorsitzenden Martin Hausenblas, der sich unter anderem für nachhaltige Entwicklung und Buddhismus interessiert und in der Stadt die Initiative „Unternehmen ohne Korruption“ ins Leben rief. Mit Teilen der ANO-Fraktion erarbeitete „Pro! Ústí“ einen Katalog von insgesamt hundert Aufgaben, denen sie sich gemeinsam widmen wollten. So sollten etwa langfristige Lösungen für das Verkehrsproblem der Stadt sowie das Schauspielhaus „Činoherní studio“ gefunden werden, dessen Schließung im Frühjahr 2014 landesweit diskutiert wurde. Ein Erfolg der neuen Stadtführung: Das Theater konnte wiedereröffnen, die dort Beschäftigten ihre Arbeit behalten.

Die Abwahl der Koalition bedeutet eine Kehrtwende. Stadtrat Pavel Dufek (ANO), der gegen ihren Fortbestand gestimmt hatte, erklärte gegenüber „Mladá fronta Dnes“, in der Stadt werde nun kein Geld mehr „für unsinnige architektonische und urbanistische Studien aus dem Fenster geworfen“. Im Gegensatz dazu werde jetzt „in das investiert, was im alltäglichen Leben der Bürger dieser Stadt gebraucht und genutzt wird“, versprach Dufek.

Knappe Mehrheit
Auch der Vorsitzende des Ortsverbandes der ODS Libor Turek kritisierte die Schwerpunkte von „Pro! Ústí“. „Alle Probleme der Stadt konzentrierten sich ausschließlich auf das Schauspielhaus und andere, unserer Meinung nach unrealistische Visionen. Probleme, die das Funktionieren des städtischen Betriebs betreffen, hat die Führung nicht gelöst“, meinte Turek. Den Vorschlag von „Pro! Ústí“, Studentenwohnheime als Flüchtlingsunterkünfte zu nutzen, bezeichnete Yveta Tomková (ehemals ANO) als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Das Ende der Koalition zeichnete sich für viele Beobachter bereits mit dem Rücktritt von ANO-Ortsverbandschef Josef Matějka am 18. Juni ab, der nach nur einem Monat im Amt wegen der Spannungen zwischen den Koalitionspartnern zurücktrat. Insbesondere kritisierte er die schwierige Kommunikation mit „Pro! Ústí“. Dem Vorsitzenden Hausenblas warf er vor, hinter dem Rücken des Ortsverbandes mit der Parteiführung von ANO verhandelt zu haben. Am 24. Juni kam es schließlich zu einer denkbar knappen Abwahl der bestehenden Stadtführung: 19 Stimmen im Stadtrat waren dafür nötig, genauso viele Abgeordnete von ČSSD, KSČM, ODS, UFO (Ústecké fórum občanů) und ANO stimmten für den Wechsel. Zur neuen Bürgermeisterin wurde Věra Nechybová (ANO) gewählt, den Junior-Partner in der von der Opposition geduldeten Minderheitenkoalition gibt UFO.

Nechybová will sich nun vor allem den finanziellen Problemen der Stadt widmen, wie sie in ihrer Antrittsrede erklärte: „Die Stadt läuft Gefahr, wegen Verstößen bei der Verwendung von Fördergeldern gravierende Sanktionen auferlegt zu bekommen. Zugleich erwartet uns eine neue Förderperiode, auf die wir uns gut vorbereiten müssen. Subventionen sind bei der derzeitigen finanziellen Lage die einzige Möglichkeit, mit relativ wenig Einsatz große Investitionen zu sichern.“ In der Lokalpolitik gehe es nicht um politische Parteien, sondern um die „Zusammenarbeit anständiger Leute“.

„Verrat an den Wählern“
Die geschasste Stadtführung reagierte empört und enttäuscht auf die Abwahl. Hausenblas bezeichnete die Vorgänge als „Verrat an den Wählern“. Ungefähr hundert Bürger demons­trierten am Dienstag vergangener Woche vor dem Magistrat mit Transparenten gegen die Überläufer von ANO. Auch die regionale Parteispitze mischte sich ein: Umweltminister Richard Brabec, der für ANO den Kreis Ústí nad Labem vertritt, gab zu, von den Problemen in der Stadtkoalition gewusst zu haben. Die „Partisanentaktik“, für die sich seine ehemaligen Kollegen entschieden hätten, sei für ihn jedoch ungeheuerlich und nicht zu entschuldigen. Die Betonung lag auf dem Wort „ehemalig“.

Die Vorgänge in Nordböhmen schlugen Wellen bis nach Prag. Nur vier Tage nach der umstrittenen Neuwahl gab das Parteipräsidium die Auflösung der ANO-Organisation in Ústí nad Labem bekannt. „Wir verstehen das als Putschversuch, von dem wir uns als Führung entschieden distanzieren“, kommentierte ANO-Chef Babiš die Vorgänge in der Kreisstadt. Einige ANO-Vertreter hätten sich aus persönlichem Interesse mit der Opposition verbündet. „Wir verurteilen das Verhalten von Personen, die im Namen von ANO gewählt wurden. Nicht nur den Koalitionspartnern gegenüber, sondern vor allem gegenüber den Bewohnern von Ústí nad Labem, die daran glaubten, dass die Zeiten der Vetternwirtschaft in der Stadt ein Ende nehmen“, kritisierte Babiš die vier abtrünnigen Stadträte.

Durch die Auflösung von ANO in Ústí nad Labem ist den betreffenden Politikern auch die Parteimitgliedschaft entzogen worden. Die Umstürzler wollen sich in der Stadt nun neu organisieren und wehren sich gegen die Vorwürfe von oben. „Wir respektieren den Schritt des Vorstands, aber wir lehnen es ab, als Putschisten bezeichnet zu werden“, gaben die Abgeordneten Věra Nechybová, Renata Zrníková, Yveta Tomková und Pavel Dufek in einer gemeinsamen Erklärung bekannt.

Heiße Tage in NordBöhmen

18. Juni | Der Vorsitzende des ANO-Ortsverbandes in Ústí nad Labem Josef Matějka tritt nach nur einem Monat im Amt zurück. Der Grund: Unlösbare Spannungen in der Koalition und angebliche Kommunikationsprobleme mit „Pro! Ústí“.

24. Juni | 19 von 37 Abgeordneten im Stadtrat stimmen für die Abwahl der bestehenden Koalition, darunter auch vier ANO-Mitglieder. Neue Bürgermeisterin wird Věra Nechybová (ANO).

25. Juni | Die Befürworter der Abwahl veröffentlichen Erklärungen, in denen sie ihr Vorgehen verteidigen: „Pro! Ústí“ habe gegen Gesetze verstoßen und öffentliche Aufträge regelwidrig verhandelt.

28. Juni | Das Parteipräsidium von ANO gibt die Auflösung des Ortsverbandes in Ústí nad Labem bekannt, die Stadträte verlieren mit sofortiger Wirkung ihre Mitgliedschaft. Parteichef Babiš distanziert sich vom Verhalten der vier Stadträte und bezeichnet die Abwahl sowie die anschließende Bildung einer neuen Koalition mit der Initiative UFO als Putsch.

30. Juni | Etwa hundert Bürger demonstrieren vor dem Rathaus und werfen den ehemaligen ANO-Abgeordneten Verrat am Wähler vor. (kw)