Schlüssel der Träume
Bohuslav Martinůs Oper „Julietta“ lässt den Zuschauer die Realität vergessen
6. 4. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Fotos: Hana Smejkalová
Sind Träume wertvoller als das Leben? Hat das Leben ohne Erinnerung Sinn? Und was ist eigentlich Erinnerung? Ein Bild, das das Geschehene festhält? Oder ein Wunschbild, das alles ausblendet, was uns nicht gefällt? Solche Fragen wirft die surrealistische Oper von Bohuslav Martinů auf.
Die außerhalb von Tschechien eher unbekannte „Julietta“ findet ihren Weg neuerdings auch in die Spielpläne westeuropäischer Bühnen. Nach Aufführungen in Genf, Frankfurt und Zürich folgt dieses Jahr Berlin. Und nun wird sie auch wieder in Prag gezeigt. Woran liegt es, dass „Julietta“ – und Martinů – in Mode gekommen sind? Vielleicht sprechen die Geschichte und die Musik ein Thema an, das in unserem hoch technisierten Zeitalter aktuell geworden ist. Nämlich das Leben in einer Epoche, in der man zu schnell zu viel erlebt – und auch vergisst.
Martinů komponierte die Oper nach der literarischen Vorlage von Georges Neveux, dessen Theaterstück „Juliette, ou la Clé des songes“ („Julietta oder ein Schlüssel der Träume“) ihn 1930 in Paris begeisterte. Auch Kurt Weill zeigte sich damals an der Vertonung interessiert. Neveux entschied sich jedoch für Martinů und war nach der Uraufführung in Prag davon überzeugt, dass es diesem gelungen ist, den Geist seines Werks zu erfassen.
In drei Akten wird die Geschichte von Michel erzählt, einem Pariser Buchhändler, der in einer kleinen südfranzösischen Hafenstadt nach Julietta, der Frau seiner Träume, sucht. Hier hörte er sie einst am offenen Fenster singen und verliebte sich hoffnungslos in sie. Unter den Stadtbewohnern trifft er auf die verschiedensten skurrilen Gestalten, die eines gemeinsam haben – niemand von ihnen kann sich an irgendetwas erinnern. Die Bewohner des Städtchens, mit ihnen auch Julietta, haben das Gedächtnis verloren. Nur durch die Kraft seiner Liebe kann Michel Julietta dazu bringen, sich an ihre erste Begegnung zu erinnern.
Nach und nach stellt sich jedoch heraus, dass Michel alles Erlebte wahrscheinlich nur träumt. Und vielleicht ist auch das ganze Leben nur ein Traum. Im finalen Akt findet er sich in einem Traumbüro wieder, in dem ein kafkaesker Beamter Traumscheine verteilt. Ihn muss er überreden, um noch einmal den Traum betreten zu dürfen, in dem er seine Julietta zu finden hofft.
Musik der Moderne
Es kann dauern, bis man sich an die für Martinů typischen Melodieverläufe gewöhnt. Man hört eine Kombination verschiedener Musikströmungen des 20. Jahrhunderts, findet Elemente klassischer Kompositionstechniken sowie des Jazz und Chansons. Ein Gemisch, das kaum einprägsame Melodien enthält. Keine Arie, die ins Ohr geht, kein Lied, das man auf dem Heimweg singt.
Vielleicht hielt Neveux gerade diesen Kompositionsstil für sein Werk angemessen. Weil er das Leiden seiner Figuren reflektiert und den Zuhörer an ihm teilhaben lässt. Weder sie noch die Stadtbewohner können sich irgendetwas merken. Es ist eine Musik, die dem Augenblick gilt – so wie unsere Zeit. Trotzdem büßt sie nichts an Schönheit ein, so wie es auch das Leben mit dem Anbruch der Moderne nicht getan hat.
Die Musik verändert sich ständig und dominiert das Stück nicht. Der Regisseurin Zuzana Gilhuus gelingt es, die Geschichte spannend zu erzählen. Das ist auch dem schlichten, aber vielsagenden Bühnenbild zu verdanken, dessen Wirkung die Choreografien von Radim Vizváry unterstreichen. Michel bewegt sich – so wie seine Geliebte und andere Figuren – ständig zwischen einer Über- und Unterwelt. Zwei Sphären des Lebens, die das Bühnenarrangement des dritten Aktes als Traum-Illusionen enthüllt. Auch die souveränen Leistungen der Musiker tragen zum Gelingen des Ganzen bei. Die Sänger vermitteln nie das Gefühl, sie wären in der ungewohnten Harmonik unsicher. Sowohl Peter Berger als Michel als auch Alžběta Poláčková als Julietta bewegen sich gelungen zwischen Sprechgesang und Rezitativen und bleiben auch in den seltenen Arien überzeugend. Die Instrumentalsoli überzeugen bis zum Schluss. Vor allem die Solovioline ist dabei hervorzuheben und das Englischhorn, dessen Klang als wiederkehrendes Element die ganze Oper begleitet. In erster Linie ist es aber die Ausgewogenheit der einzelnen Elemente, die das Bühnenwerk so wirksam umzusetzen vermag. Das Einzige, was diese ab und zu stört, sind Orchesterpassagen, die die Sänger übertönen, statt sie zu begleiten. Auch Dirigent Jaroslav Kyzlink beweist Einfühlung in Martinůs musikalische Welt.Orchester, Sänger und Bühnenbild harmonieren gut. So ist es die Geschichte, die den Zuschauer fesselt und die ihn auch nachdem der Vorhang gefallen ist, nicht so schnell wieder loslässt.
Julietta. Tschechisch mit englischen Übertiteln, Národní divadlo, nächste Aufführungen: 26. April & 15. Mai, Eintritt: 100–990 CZK, www.narodni-divadlo.cz
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