Schweres Unterfangen
Ein neues Handbuch gibt einen Überblick über die deutsche Literatur Prags und der Böhmischen Länder sowie ihre Entwicklung in den letzten Jahrhunderten
24. 1. 2018 - Text: Klaus Hanisch
Sie haben lange darüber diskutiert, wer es wert sei, in ihrem Literaturhaus einen Platz zu finden. Nur Prager Schriftsteller wie Max Brod und Franz Kafka? Oder auch die vielen anderen und oft schon vergessenen Autoren deutscher Sprache, die in Böhmen und Mähren geschrieben haben?
Die Schriftstellerin Lenka Reinerová wünschte sich anfangs eine Konzentration allein auf Prag, der ehemalige Botschafter František Černý wollte dagegen die ganze Bandbreite des literarischen Wirkens dargestellt wissen. Also zum Beispiel auch den Böhmerwald-Dichter Adalbert Stifter oder Autoren aus Brünn. Und ebenso Literaten, die im Sudetenland lebten. „Man sollte zumindest daran erinnern, dass es diese Literatur gab“, forderte Černý während eines Gesprächs, das wir im „Café Slavia“ zu Beginn der Nullerjahre führten. Zu einer Zeit, als das große Projekt gerade mal eine Rechtsform hatte und sonst nichts.
Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren gibt es nun schon einige Jahre. Ein Handbuch über die deutsche Literatur Prags und der Böhmischen Länder ist jetzt neu erschienen. In einem Begleittext wird herausgestellt, dass damit endlich Konzepte „überwunden“ werden, die die Prager Literatur strikt von der sogenannten sudetendeutschen Literatur abgrenzen. Ziel des Handbuches sei, endlich die „Gesamtheit der deutschsprachigen Literatur in Prag, Böhmen und Mähren mit all ihren Wechselwirkungen“ darzustellen. František Černý darf sich – Jahre später – bestätigt fühlen.
Solch eine Zusammenführung lag indes schon lange auf der Hand. Auslöser für die trennende Betrachtung war eine Konferenz auf Schloss Liblice nahe Prag, die unter Literaturwissenschaftlern mittlerweile Mythenstatus genießt. Sie legte im Jahr 1965 fest, dass sich „Prager deutsche Literatur“ von sudetendeutschen Autoren unterscheide und beeinflusste damit nachhaltig die Forschung. Im Gegensatz dazu würdigte jedoch Max Brod fast zur gleichen Zeit bereits die Literatur der „Deutschen aus den Randgebieten“. In seinem Buch „Der Prager Kreis“ lobte er „hervorragende Lyriker“ wie Richard (von) Schaukal und berichtete von anhaltenden Kontakten seiner Freunde zu Autoren wie Josef Mühlberger.
Wer Schaukals Spur in dem Handbuch folgt, wird nach Brünn entführt, zwar mährische Landeshauptstadt, aber um 1900 nur ein „kultureller Vorort Wiens“. Schaukal wurde dort 1874 geboren und machte sich vor allem als „Autor der literarischen Dekadenz“ einen (überregional beachteten) Namen. Josef Mühlberger stammte aus Trautenau (Trutnov) im Riesengebirge und blieb in Romanen, Erzählungen oder Dramen seiner Heimat auch während seiner Studien- und Arbeitsjahre in Prag verbunden. Wenngleich das Handbuch eine Neulektüre seiner Texte empfiehlt, weil diese Heimat heute in einem anderen Kontext interpretiert werde.
Erstaunlicherweise erwähnte der Jude Max Brod auch „gute Erzähler“ wie Karl Hans Strobl, seit 1933 NSDAP-Mitglied und ein Jahr später von der Tschechoslowakei wegen staatsgefährdender Betätigung ausgewiesen (dazu der PZ-Artikel: Vom Corpsburschen zum NS-Vorzeigeautor). Dabei sei es Brod allein um literarische Qualität gegangen und nicht um eine „moralisch-ideologische Sortierung“, wie Mitherausgeber Manfred Weinberg anführt. Sein Handbuch spart weniger mit klaren Worten als Brod. Es macht deutlich, dass Strobl von Beginn an eine „deutschnationale Haltung“ offenbarte und in Untertiteln „auf eine konsequent eingesetzte Poetik der Verunsicherung“ verwies, die als Subtext häufig „die Angst vor dem Fremden bis zur Aversion gegen Überfremdung“ beinhaltete. Strobl setzte in seinen Werken einen „männlichen Vitalismus“ dagegen.
Der Preis (fast 70 Euro für die Hardcover-Ausgabe) und das Konzept lassen vermuten, dass die Texte dieses Handbuchs weniger eine breite Leserschaft ansprechen sollen als vielmehr germanistische Seminare. Deren Teilnehmer werden Ausführungen zu „Herbartianische Ästhetik nach 1848“ oder „Interkulturalitätskonzepte“ fraglos mehr zu schätzen wissen. Zudem bewältigen junge studentische Augen die kleine Schrift auf 445 Seiten einfacher als Leser in fortgeschrittenem Alter.
Glücklicherweise finden die Autoren trotzdem zu einem menschenfreundlichen Schreibstil. Er macht es möglich, der wissenschaftlichen Gliederung der verschiedenen Kapitel zu folgen. Wobei sicher nicht jeder auch jeden Aspekt über die Böhmische Literatur lesen will. Dies ist gerade ein Vorteil von Handbüchern. Sie geben Orientierung und erleichtern die Wahl des Stoffes. Leser müssen sich nicht auf jede einzelne Seite einlassen. Daher sehen sich seine Autoren auch nicht als Konkurrenz zu ausführlichen Literaturgeschichten der Bohemistik.
Gleichwohl ermöglicht das Handbuch mit knappen Zusammenfassungen einen nützlichen Überblick. Hilfreich sind die Hinweise auf weiterführende (deutsche und tschechische) Literatur am Ende der einzelnen Kapitel. Bemerkenswert ist, dass auch Autoren der Gegenwart – wie Jan Faktor und Jaroslav Rudiš – in einem Unterkapitel zu Wort kommen.
Dagegen kann nur fehlender Platz der Grund dafür sein, dass eine durchaus lesenswerte Übersicht über die deutschsprachige Publizistik in Prag und Böhmen schon mit dem Zweiten Weltkrieg abschließt und nicht berücksichtigt, dass deutschsprachige Publizistik in Prag bis zum heutigen Tag betrieben wird.
Wie schwierig die Aufgabe ist, die deutsche Literatur Prags, Böhmens und Mährens unter einen Hut zu bringen, wird bereits im Vorwort dargelegt. Ein Weltliterat wie Franz Kafka steht über allem, erst recht darüber, wo er eigentlich geboren wurde. Auch Rilke ist so berühmt, dass kaum noch bekannt ist, dass er aus Prag kam. Umgekehrt seien selbst Autoren wie Leppin oder Winder nahezu vergessen. Werfel oder Stifter werden längst von der Literaturschreibung Österreichs beansprucht. All dies macht dieses Handbuch mit seinen Einordnungen und Erläuterungen aber gerade notwendig.
Ein großes Verdienst ist, dass es aufzeigt, wie Landschaften und Orte literarisch genutzt, aber auch politisch instrumentalisiert wurden. Ein weiteres, dass darin selbst Mundartdichter wie etwa Georg Kropp (geboren 1876 in Wildstein bei Eger/tschechisch: Vildštejn, heute: Skalná) erwähnt werden und an sie wieder einmal in einem größeren Zusammenhang erinnert wird.
Das Buch ist Professor Kurt Krolop (1930-2016) gewidmet, der ebenfalls an der Gründung des Prager Literaturhauses entscheidend mitwirkte. Dort klagte eine Autorin vor einigen Jahren, dass ihrer Biografie über Hans Natonek keine allzu große Leserschaft beschieden war. Dieses Nachschlagewerk gibt nun reichlich Hinweise darauf, was deutsche Literatur Prags, Böhmens und Mährens ist – nämlich weitaus mehr als Rilke, Kafka und Werfel.
Peter Becher u.a. (Hg): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2017, 69,95 Euro
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?