„Sie sind ein Nazi!“
Gerhard Scholten überlebte Auschwitz. In Prag wurde er nach dem Krieg als Kollaborateur verhaftet. Seine Erinnerungen „Zwischen allen Lagern“ sind kürzlich auf Tschechisch erschienen
23. 3. 2016 - Text: Friedrich Goedeking
Seine Erinnerungen an die Jahre 1944 bis 1947 nannte Gerhard Scholten „Zwischen allen Lagern“. Als jüdischer Häftling durchlitt er zuerst die Brutalität der Konzentrationslager, als Tschechoslowake deutscher Nationalität wurde er nach dem Krieg Opfer der Willkür tschechischer Behörden. Auf Deutsch veröffentlichte Scholten das Buch bereits 1988. Die tschechische Übersetzung von Zuzana Jürgens ist im vergangenen Jahr erschienen. Sie erzählt 20 Jahre nach Scholtens Tod nicht nur vom wenig bekannten Schicksal eines jüdischen Holocaustüberlebenden in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit, sondern gibt auch eine Antwort auf die Frage, welche Gefahren die Ideologie eines homogenen Nationalstaates birgt, die heute oft hinter der Angst vor Fremden, Flüchtlingen und Muslimen steckt.
Gerhard Scholten wird 1923 in Trautenau (Trutnov) als Sohn eines Textilfabrikanten geboren. Seine Eltern bekennen sich 1930 als tschechoslowakische Bürger zur deutschen Nationalität. Die Mutter ist evangelisch, der Vater Jude – er reist noch vor der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten in die USA aus, während der Sohn seine Jugend zusammen mit der Mutter und Großmutter in Prag verbringt.
Im Jahr 1944 wird der 21-Jährige von der Gestapo verhaftet und nach Theresienstadt deportiert, wo er unter unmenschlichen Bedingungen für die Deutsche Reichsbahn arbeiten muss. Bis auf die Knochen abgemagert und mit Wunden am ganzen Körper, die von den Schlägen und Stiefeltritten der Wachmänner stammen, wird er nach Auschwitz deportiert. Er gehört zu den wenigen Häftlingen, die dort von der Roten Armee befreit werden.
Schaftstiefel und Reitgerte
Kurz nach Kriegsende feiert Scholten in Prag überglücklich das Wiedersehen mit seiner Mutter, die wie ihr Sohn die Haft in mehreren Konzentrationslagern überlebt hat. Drei Wochen später wird er vom Staatsicherheitsdienst vorgeladen. „Sie sind verhaftet!“ erklärt ihm der tschechische Beamte. „Sie sind ein Nazi!“ Scholten glaubt, sich verhört zu haben. Er zeigt seine eintätowierte Häftlingsnummer aus Auschwitz: 199.753. Doch der Beamte bleibt unbeeindruckt bei seiner Aussage: „Sie sind ein Nazi!“ Auch die Dokumente der Roten Armee und des Roten Kreuzes, die Scholtens Haft in Auschwitz bestätigen, überzeugen ihn nicht. „Wir haben Beweise dafür, dass Sie ein Nazi sind“. Welche Beweise das seien, will Scholten wissen. „Das werden Sie schon sehen“, entgegnet der Beamte und weist einen Polizisten an: „Abführen nach Modřany!“
In dem Prager Stadtteil haben die Behörden ein Lager für Reichs- und Sudetendeutsche errichtet. Auch Scholtens Mutter wird dort eingeliefert. Nur weil sich ihre tschechischen Freunde hartnäckig bemühen und beim Staatssicherheitsdienst vorstellig werden, lassen die Behörden Scholten und seine Mutter nach vier Monaten wieder frei. Die Mutter und die Großmutter, die ebenfalls monatelang inhaftiert worden war, verlassen so schnell wie möglich Prag und finden in Wien eine neue Heimat.
Scholten folgt ihnen, bemüht sich aber noch bis 1947 vergeblich, als tschechoslowakischer Staatsbürger anerkannt zu werden. Ebenso erfolglos bleiben seine Bemühungen, seine Prager Wohnung zurückzubekommen sowie die Versuche, eine Entschädigung für die Textilfabrik des Vaters zu erhalten.
Erst nach seiner Freilassung erfährt Scholten, dass er und seine Mutter und Großmutter von ihrem Untermieter bei den Behörden als Nazis angezeigt worden sind. Der Tscheche Josef Kout, Mitglied eines Sinfonieorchesters, berichtete den Behörden im Juni 1945, dass Scholten und die beiden Frauen miteinander nur Deutsch sprächen und die Frauen geringe oder gar keine Tschechischkenntnisse besäßen. Scholtens Mutter habe ihren Sohn im Geiste des Nationalsozialismus erzogen und dafür gesorgt, dass er Mitglied der Hitlerjugend wurde. Ein Zeuge berichtete, er habe öfter gesehen, dass Gerhard mit schwarzen Schaftstiefeln und einer Reitgerte das Haus verlassen habe. In Wahrheit war Scholten zur Reitstunde gegangen. Ehemalige Nachbarn der Scholtens bestätigten die Beschuldigungen. Nach ihrer Freilassung können die Scholtens ihre Wohnung nicht wieder beziehen. Der Denunziant Kout wohnt dort bis zu seinem Tod 1965.
Ablehnung und Verfolgung
So bewegend sein Schicksal ist, so unzureichend sind die Erklärungen, die Scholten in seiner Autobiografie für das Verhalten der tschechischen Behörden findet. Für ihn ist der tschechische Präsident Edvard Beneš, den er als „Marionette Stalins“ bezeichnet, für die Ablehnung und Verfolgung der jüdischen Holocaust-Überlebenden in der Tschechoslowakei verantwortlich. Er verkennt die Tatsache, dass die antisemitische Einstellung der Tschechen nach dem Krieg eine sehr viel längere Vorgeschichte hat. Ausschreitungen gegen Juden gab es in Prag schon seit Beginn der Ersten Republik. Karel Baxa, von 1922 bis 1937 Oberbürgermeister von Prag, war ein überzeugter Antisemit, der dagegen nicht vorging. Als in den dreißiger Jahren jüdische Emigranten aus Deutschland in die Tschechoslowakei flohen, verstärkte die tschechisch-nationalistische Presse ihre Angriffe gegen Juden. Sie galten als politisch unzuverlässig. Man unterstellte ihnen, dass sie eher mit den Deutschen als mit den Tschechen kooperierten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die von den Nazis verfolgten Juden von vielen Tschechen als „Germanisatoren“ bezeichnet. Viele Shoah-Überlebende, die den Judenstern getragen hatten, mussten nun die weiße Armbinde mit dem Aufdruck „N“ für „Němci“ („Deutsche“) tragen. Der erste Innenminister nach dem Krieg Václav Nosek erklärte: „Wir müssen die einzigartige Möglichkeit nutzen, unsere Rechnungen zu begleichen, nicht nur mit den Feinden, die unserer Nation in Kollaboration mit Hitler geschadet haben, sondern auch mit jenen, die unsere Existenz durch Germanisierungsversuche gestört haben – egal, ob sie mit den Nazis kollaborierten oder nicht.“ Als „Germanisatoren“ wurden Juden bezeichnet, wenn sie einen deutsch klingenden Familiennamen hatten, sich der deutschen Umgangssprache bedienten, in der Vorkriegszeit deutsche Schulen besucht oder auch nur ein Abonnement im Neuen Deutschen Theater besessen hatten.
Gerhard Scholten: Mezi všemi tábory. Život v době, která zešílela. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Zuzana Jürgens. Herausgegeben vom Argo-Verlag im Auftrag des Instituts für das Studium totalitärer Regime (Ústav pro studium totalitních režimů), Prag 2015, 268 Seiten, 298 CZK, ISBN 978-80-257-1708-0; deutsche Originalausgabe: „Zwischen allen Lagern. Leben in einer Zeit des Wahnsinns“, Universitas, München 1988, 221 Seiten, ISBN 978-3-8004-1163-4
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