Steile Thesen für schräge Propaganda
Václav Klaus breitet wieder einmal seine gesammelten Vorurteile gegen die EU aus
26. 7. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/DPA/Christoph Schmidt
Das Büchlein des ehemaligen tschechischen Präsidenten Václav Klaus und seines langjährigen engen Mitarbeiters Jiří Weigl „Völkerwanderung. Kurze Erläuterung der aktuellen Migrationskrise“ wäre in den Spalten dieser Zeitung wohl unbeachtet geblieben. Doch nun liegt es in deutscher Übersetzung vor. Wenn sich der ehemalige Präsident und mit seinen 75 Jahren immer noch aktive Publizist, Redner und umtriebige Agitator damit an das deutsche Publikum wendet, dann kann es hier nicht übergangen werden. Wie will uns Klaus die Migrationskrise „kurz“ erläutern? Geht das überhaupt bei einem Phänomen, bei dem selbst Klaus eingesteht, dass „jedes angedeutete Subthema ein eigenes Buch verdient hätte“?
Um es gleich vorwegzunehmen: Das „durchaus schmale Buch“ ist mit seinem Text von knapp 90 Seiten, der bei sparsamerem Umgang mit Papier auch leicht auf 60 Seiten Platz gefunden hätte, denn doch etwas zu schmal, um dem Leser wirklich etwas nachvollziehbar zu „erläutern“. Es begnügt sich eigentlich mit einer Aneinanderreihung teils recht steiler Thesen, ohne sich die Mühe zu machen, diese durch überprüfbare Fakten und Argumente zu belegen.
Zwar versuchen sich die Autoren gegen diesen Einwand zu schützen, indem sie mitteilen, „keinen akademischen Anspruch“ zu haben und deshalb „den Leser auch nicht mit endlosen Literaturhinweisen oder unzähligen Namen bekannter Autoren belasten“ zu wollen. Aber enthebt der Verzicht auf einen Anmerkungsapparat die Autoren der Pflicht, ihre Gewissheiten mit entsprechenden Tatsachen zu unterfüttern? Vor allem wenn sie als sehr gewagte Behauptungen daherkommen, die sich zudem gegen die tägliche Wahrnehmung sperren?
Das beginnt schon mit dem Buchtitel „Völkerwanderung“. Klaus gibt sich „fest davon überzeugt“, dass die „noch lange nicht auf ihrem Höhepunkt angekommene Migrationswelle … nur mit der früheren Invasion ‚barbarischer’ Völker in die antike Welt vergleichbar (ist)“. Danach seien „Kultur und Zivilisation des damaligen Europa … in einem so unvorstellbaren Ausmaß destabilisiert und zurückgeworfen“ worden, „dass es mehrere Jahrhunderte dauerte, bis die Folgen überwunden waren.“
Spiel mit Horrorbildern
In der Debatte über die Migrationskrise mit dem Topos „Völkerwanderung“ zu hantieren, ist in bestimmten Kreisen zu einem gängigen Kunstgriff geworden. Man braucht nichts weiter zu „erläutern“, wie der Untertitel eigentlich verspricht, allein schon der Begriff evoziert die schaurigsten Horrorbilder von endlosen Trecks und keulenschwingenden Angreifern. Die Autoren können es sich deshalb ersparen, genauer darauf einzugehen, warum allein dieser historische Vergleich adäquat ist (und nicht zum Beispiel der Einfall der Spanier in das Reich der Inkas, um nur eine Alternative anzubieten) und was genau verglichen wird. Hauptsache ist, dass zuverlässig die Assoziationen aufgerufen werden, die der übliche Geschichtsunterricht in die Köpfe eingepflanzt hat und die geeignet sind, Angst und Panik zu verbreiten.
Nach Verschwörung klingt es dann, wenn Klaus an anderer Stelle der aktuellen Migrationswelle den „Charakter einer organisierten Völkerwanderung“ zuschreibt. Er bleibt die Antwort nicht schuldig, wer den Schrecken organisiert: Nicht etwa die Muslimbruderschaft, wie unter Berufung auf dubiose Quellen Präsident Zeman vor einigen Monaten den politischen Diskurs bereichert hat. Nach Klaus handelt es sich, schlimmer noch, um einen „einflussreichen Teil der europäischen Eliten“, der „diese neuzeitliche Völkerwanderung begrüßt und bereit ist, sie zu seinen Gunsten zu nutzen.“ Auf diese Eliten gehe „der primäre Impuls“ zurück. Und in ihnen spiele „zweifellos die deutsche ‚Migranten-Mama’ Merkel mit ihrem obamahaften Schlachtruf ‚Wir schaffen das’ die Hauptrolle.“ Sie habe mit Bundespräsident Gauck zusammen „die Migranten direkt zum Einmarsch (sic!) nach Europa“ aufgefordert.
Diese mit nichts unterlegte These zieht sich durch das ganze Büchlein, in dessen Verlauf sich Kommissionspräsident Juncker neben Merkel als wichtigster Mitorganisator des millionenfachen Einfallens der Migranten herausschält. Was aber soll das Motiv für dieses mutwillige „Experiment der Ansiedlung von Hunderttausenden bis Millionen meist unbekannter Menschen, die einer vollkommen anderen Kultur und Zivilisation angehören“, sein? Dafür hegt Klaus den „an Gewissheit grenzenden Verdacht …, dass die heutige Massenmigration den führenden europäischen Politikern enorm gut ins Konzept passt.“ Und ein paar Sätze weiter ist aus dem Verdacht schon Gewissheit geworden, denn ohne Einschränkung heißt es: „Es geht ihnen um nichts anderes als um die Intensivierung der laufenden Zentralisierungs- und Einigungsprozesse.“ Denn „um der Zukunft des europäischen Projekts willen halten die Eliten Europas die Massenimmigration für unverzichtbar.“
Pamphlet statt Aufarbeitung
Spätestens hier regt sich freilich auch beim Leser ein Verdacht, dass es nämlich Klaus nicht wirklich darum zu tun ist, die Migrationskrise zu erklären. Er benutzt die Krise lediglich als Folie, um darauf seine seit langem bekannten Aversionen gegen die EU und ihre Repräsentanten auszubreiten. Die Krisenherde im Nahen Osten, vor allem die Bürgerkriege in Syrien und im Irak kommen nur am Rande vor; Flüchtlinge, Migranten, Einwanderer werden zu austauschbaren Begriffen für Menschen, denen es „oft … nur um eine Unzufriedenheit mit ihrem bisherigen Leben geht“ und deren Sozialbezüge „am Ende höher sind als die Altersrenten … und als das pro Kopf gerechnete Familieneinkommen“ normaler Bürger. Anregungen, wie die durch die Flüchtlingskrise entstandene, laut Merkel „größte Herausforderung für die EU“ bewältigt werden könnte, sucht der Leser vergebens.
Nebenbei wird mit leichter Hand und meist nur in Halbsätzen alles aufgerufen, was den Autoren ein Gräuel ist: „die absurde Doktrin von der menschengemachten globalen Erwärmung“, Kritik an Putin, die „gut organisierten Attacken auf die traditionelle Familie“, das „Gender-Mainstreaming-Gefasel“, „politische Korrektheit“ sowie alle möglichen -ismen: Pseudohumanismus, Progressivismus, Etatismus, Staatspaternalismus, grüner Dirigismus, sozialer Konstruktivismus, Multikulturalismus, „Human Rightismus“. Nichts davon wird ausgeführt, nur benannt in der Hoffnung, dass auch den Leser der Weltschmerz überkommt. Schließlich darf auch Klaus’ liebste Denkfigur nicht fehlen, dass nämlich die europäische Integration etwas Ähnliches ist wie das realsozialistische System unter sowjetischer Führung, vielleicht sogar noch schlimmer, weil raffinierter mit ihrer „Humanitätsduselei“ und dem „heuchlerischen Wohlfahrtsgetue“.
Schade, einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Diskussion der Ursachen und Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationskrise haben die beiden Autoren nicht vorgelegt. Mit Gegenpositionen findet keine Auseinandersetzung statt, die diesen Namen verdient. Stattdessen liegt ein in blindem Eifer verfasstes Pamphlet gegen ein Zerrbild der EU vor uns. Die Versicherung der Autoren, keine „populistische Stimmungsmache betreiben“ zu wollen, vermag das aus jeder Seite aufscheinende Ressentiment nicht zu übertünchen. Das Bändchen passt schlecht dazu, wie sich Klaus neulich in einem Interview selbst stilisierte: Er sei „ein Mensch, der eher in der Welt der Ideen und Theorien lebt, der tausende von Büchern studiert, bevor er zu einem Urteil gelangt.“ Immerhin hat Klaus der von ihm hofierten AfD einen Korb schillernder Versatzstücke für schräge Propaganda geliefert.
Václav Klaus, Jiří Weigl: Völkerwanderung. Kurze Erläuterung der aktuellen Migrationskrise, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2016
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“