Stille Nacht, ringsum Träume
Genius loci

Stille Nacht, ringsum Träume

Im Epizentrum des weihnachtlichsten Liedes der Welt

22. 12. 2019 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Berny Steiner

Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“

Am Anfang dieser Geschichte war nicht das Wort, auch keine Musik, kein Licht und keine Stille. Am Anfang war eine Explosion. Dann folgten Dunkelheit und Kälte. Im April 1815 brach auf dem fernen Java der Vulkan Tambora aus – es war der größte Vulkanausbruch, der in der Menschheitsgeschichte verzeichnet wurde. Eine Katastrophe von planetarem Ausmaß. Millionen von Tonnen Asche und Staub gerieten in die Atmosphäre und verdeckten das ganze folgende Jahr die Sonne.

Der Ausbruch des Tambora vor 200 Jahren wirkt bis heute nach. | © Jialiang Gao, CC BY-SA 3.0

Vom Jahr 1816 sprach man als vom „Jahr ohne Sommer“, von dem Jahr, in dem in Europa die Sonne fast nie schien und es im Sommer so kühl war wie im März. Es war das Jahr nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, und die Menschen, statt aufatmen zu können, waren gepeinigt von Ernteausfällen, Hunger und Kälte. Kein Wunder, dass diejenigen, die von irgendeinem fernen Vulkan keine Ahnung hatten, das Geschehen wie eine Strafe Gottes empfanden. Übrigens wurden in ganz Europa die Pferde geschlachtet, für die man kein Futter mehr hatte; das trug zur Erfindung der Draisine bei und dann auch zur Entwicklung der Eisenbahn.

Es klingt fast märchenhaft, aber genau damals, vielleicht gerade unter dem Einfluss dieser erdrückenden Umstände, entsteht an einem Ort dieser in Kälte erstarrten Welt – und uns Tschechen kann es eine Freude sein, dass das von uns nicht so weit entfernt war – ein wundervolles Werk, in bemerkenswertem Einklang von Wort und Weise, eine herzergreifende Melodie, die auch noch zweihundert Jahre später die Herzen der Menschen auf der ganzen Welt geheimnisvoll anrührt.

Im Jahre 1815 schreibt in jungen Jahren Josef Mohr, kaum hatte er das Theologiestudium hinter sich, das Gedicht Stille Nacht! heilige Nacht!, das sein Freund, der um zwanzig Jahre ältere Schulmeister und Organist Franz Xaver Gruber vertont. Erstmals erklingt diese Melodie an Heiligabend 1818 in dem Marktflecken Oberndorf nördlich von Salzburg in der Sankt-Nikola-Kirche – Ende des 19. Jahrhunderts fällt sie wiederholten Überschwemmungen zum Opfer, weil sie fast am Ufer der Salzach steht, für die wir im Tschechischen den schönen Namen Salice haben. Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts steht an der Stelle die Stille-Nacht-Kapelle und daneben gibt es ein kleines Museum, und überhaupt ist es dort schön wie an einem Ort, den die Menschen wertschätzen, weil ihnen die Sache sehr viel bedeutet.

Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf | © viator.com, CC BY-SA 2.0

Ich kann das bestätigen, denn ich bin im Spätherbst 2018 dort gewesen. Das hatte damit zu tun, dass ich in die österreichischen Jubiläumsfeiern ihres weltweiten weihnachtlichen Evergreens hineingeraten bin. Und zwar so sehr hineingeraten, dass ich von der Direktorin von Österreich Werbung Prag beauftragt wurde, eine Diskussion über Stille Nacht! Heilige Nacht! zu moderieren, die im November 2018 im Refektorium des Prager Klosters Strahov unter Beteiligung einer ziemlich zahlreichen österreichischen Delegation stattfand. Sie war gekommen, um nach ihrer Friedensbotschaft zu schauen – aber auch, um sie zu kontrollieren. Die Aufgabe wurde wohl erfüllt, und ich konnte aufatmen.

Doch hat mir die Direktorin das nicht zur Aufgabe gemacht, sondern sie hat mich höflich gebeten, worauf ich zunächst leichtsinnig zugesagt habe (ein halbes Jahr vor dem Termin sagt man eigentlich alles gleich zu). Allerdings überkam mich dann allmählich ein flaues Gefühl, denn mir wurde zunehmend klarer, was das eigentlich für eine Verantwortung ist. Man stelle sich vor, irgendein Österreicher bekäme den Auftrag, eine Diskussion über etwas zu leiten, was uns Tschechen heilig und wirklich ein tschechischer Schatz ist – und Tschechen seien nach Wien gefahren, um sich das anzuhören. Das ist doch eine sonderbare Vorstellung, nicht wahr? Und was wäre das wohl für ein Schatz?

Oft hat man den Verdacht, dass uns nichts heilig ist, möglicherweise nicht einmal die tschechische Version von „Heilige Nacht“. Doch bin ich mir da nicht sicher; vielleicht wird auch ein Zyniker oder ein Ignorant in geistlichen Dingen – was in Böhmen die häufigere Variante ist – in dem Augenblick angerührt, da er diese Melodie vernimmt, und er fühlt, dass an ihm gerade ein Hauch von Stille vorbeistreifte, von etwas Weihevollem, von Schönheit oder ich weiß nicht von was. Und so habe ich von da an, als mir die Ehre (und Last) zuteil wurde, die Debatte über dieses notorisch bekannte Lied einzuleiten und zu moderieren, endlich etwas über die Geschichte des allerweihnachtlichsten Liedes der Welt gelernt und bin davon fasziniert und ergriffen.

Blick auf Salzburg | © Daniel Klaffke, CC0

Ich konnte mich also eine Weile im Epizentrum dieser Geschichte aufhalten. Zentrum der Entstehung von Stille Nacht ist das Land Salzburg. Dieser schöne Teil Österreichs (aber Österreich ist überall schön) wurde erst nach den Napoleonischen Kriegen Österreich zugeschlagen, so dass genau genommen die beiden Autoren des Liedes von Geburt an keine Österreicher waren – so wie auch Mozart kein Österreicher war, doch das ist allgemein bekannt. Beide, Mohr und Gruber, verbrachten ihr ganzes Leben auf verschiedenen ländlichen Stationen um Salzburg, wo Ende 2018/Anfang 2019 im Salzburg Museum eine schöne und wirklich interessante Ausstellung zum 200. Jahrestag der Entstehung von Stille Nacht gezeigt wurde. Sie stellte die Geschichte des Liedes in verschiedenen Kontexten vor: musikalischen, theologischen, historischen, politischen, medialen …

Auch das weihnachtliche Wunder aus dem Jahre 1914 fehlte nicht, als das Singen des Liedes an Heiligabend die deutschen und britischen Soldaten aus den Schützengräben steigen ließ, um gemeinsam das Fest zu feiern: Später hat sich das nie wiederholt. Man konnte dort auch eine Aufzeichnung des Reichsrundfunks aus dem Jahre 1942 hören, wie deutsche Soldaten auf den vereisten Schlachtfeldern Stalingrads angeblich Stille Nacht singen, und dabei ist es eigentlich ihr Todeslied.

Kleinere Ausstellungen gab es an weiteren sieben, mit dem Wirken von Mohr und Gruber verbundenen Orten im Land Salzburg (eine Ausnahme bildet Hochburg-Ach im Bundesland Oberösterreich, Geburtsort von Gruber, nicht weit von Braunau, wo nochmal wer geboren wurde?). Einer von beiden war Geistlicher, der andere Kantor, beide wurden von einem Ort zum anderen versetzt, wie das damals so üblich war. Wenn sie Tschechen gewesen wären, dann wären aus ihnen wohl nationale Erwecker geworden … Vielleicht würden in den Orten Gedenktafeln an sie erinnern, gut möglich. Doch mit solcher Sorgfalt gepflegte Wallfahrtsorte, wie in Österreich, würde man ihnen wohl schwerlich gönnen.

Oberndorf an der Salzach | © Alessandro Guarguaglini, CC BY-NC 2.0

Ein Kultstätte erster Ordnung ist zweifellos Oberndorf, wo Gruber und Mohr das Lied zum ersten Male gemeinsam sangen und spielten. Das Dorf liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich von Salzburg. Heute ist es sogar eher ein Städtchen. Es befindet sich unmittelbar an der Grenze zu Deutschland: Gegenüber am anderen Ufer der Salzach liegt die bayerische Stadt Laufen. Joseph Mohr war Aushilfspfarrer in jener schon lange nicht mehr bestehenden Sankt-Nikola-Kirche, in der nach einer Legende die Mäuse ausgerechnet vor Weihnachten das Gebläse der Orgel zerfraßen. Gruber improvisierte deshalb in aller Eile, und zu dem Gedicht, das ihm Mohr gab, schrieb er jenes Hohelied. Nach neuerer Forschung trifft das so nicht zu, aber die Geschichte ist trotzdem schön.

Franz Xaver Gruber war Lehrer aus dem nahe gelegenen Arnsdorf, das auch heute noch wirklich ein Dorf ist, nur aus ein paar Häuser bestehend, die hübsch und mit Geschmack gepflegt sind, wie das bis auf wenige Ausnahmen in Österreich überall der Fall ist. In Arnsdorf gibt es noch heute die Schule, in der Gruber unterrichtete und ein „fleißiger und geschickter“ Erzieher von ungefähr vierzig Kindern war, die der Schulpflicht unterlagen. Diese Schulpflicht verdanken die österreichischen Kleinen derselben Herrscherin wie die böhmischen Kinder, nämlich Maria Theresia.

Kirche Maria im Mösl, Arnsdorf | © Werner100359, CC BY 3.0

Im kleinen Museum ist angedeutet, wie wohl damals im 19. Jahrhundert eine Schulklasse ausgesehen hat, und offenbar war das nicht anders als irgendwo in Böhmen: Schulbänke, Rechenschieber, Tintenfässer, Tafeln mit Kreide, an der Wand natürlich ein Kruzifix und einige Blätter, auf einem das ABC, hier allerdings in Kurrentschrift, auf einem anderen ein naturkundliches Stück, das die Entwicklung von der Larve über die Raupe zum Schmetterling veranschaulicht. Daraus spricht die gleiche Schlichtheit und Armut, aber auch die Norm, die Europa emportrug, nämlich die Selbstverständlichkeit von Bildung, des Lesens und Schreibens, der gemeinsamen zivilisatorischen Grundlage.

Es gibt dort eine Fotografie einer solchen Klasse vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die Knaben sitzen in den vorderen, die Mädchen in den hinteren Reihen, was wohl nicht bedeutet, dass jene vorgezogen wurden, sondern eher, dass man auf sie mehr aufpassen musste. Lauter solche Schädel wie bei uns, mal stellt man sich einen Taugenichts vor, mal einen braven Jungen; ich weiß nicht, ob es ohne Kenntnis der Herkunft des Fotos möglich ist zu erkennen, ob sie Österreicher oder Böhmen sind, doch wissen wir, dass alle deutsch sprachen, so dass der Lehrer kein Problem hatte, sich mit ihnen zu verständigen.

Jubiläumskarte zum Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ von 1918

Auch heute noch dürfte dies in Arnsdorf bei den paar Kindern kein Problem sein, doch in größeren österreichischen Städten sollte der Lehrer jetzt auch schon Türkisch oder Arabisch können, wenn er mit der ungleich größeren Zahl seiner Schüler kommunizieren will. Aber das ist nicht das Thema dieses Artikels, und im Übrigen gehört jene Melodie allen.

Das mag auch damit zu tun haben, dass das Weihnachtslied im Umfeld von Armut und Entbehrung entstanden ist und dabei die Kraft hat, den Menschen mit der Hoffnung zu erfüllen, dass die dunkle Nacht vorübergeht und dass gerade aus ihr, aus der tiefsten Finsternis, die Hoffnung auf Licht aufkeimt. So heißt es schon in dem alten tschechischen Lied Weite Nacht, ringsum Träume (Šira noc, vůkol sen): „In Dir, Du herrliches Kind, scheint der Tag des neuen Heils schon auf, dieser Tag des neuen Heils.“ Eine solche Macht hat also das Lied Stille Nacht, bloß dürfen Sie es nicht zu oft singen …

Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Tichá noc, vůkol sen. V epicentru nejvánočnější písně světa“ in der Ausgabe 46 vom 15. November 2018 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.

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