Treten mit Aussicht

Treten mit Aussicht

Zwei Spanier bieten geführte Touren auf Rädern aus der Zeit des Sozialismus an. Eine Testfahrt ohne Gangschaltung

20. 5. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

Die einen nennen sie abwertend „alt und klapprig“, die anderen finden sie begeistert „retro“: Fahrräder der Marken Favorit, Eska oder Liberta waren vor 1989 beliebte Mittel der Fortbewegung in der Tschechoslowakei. In den vergangenen Jahren sind sie größtenteils in Vergessenheit geraten. Nun haben zwei in Prag lebende Spanier die Räder für sich entdeckt und daraus eine Geschäftsidee entwickelt: Unter dem Namen „Retro Bike Tours“ bieten sie Rundfahrten für Touristen an.

Ignacio Blanco öffnet das Tor zur Werkstatt im Prager Stadtteil Bubeneč: In der Garage lagern Reifen und Lacke, ein Rahmen wartet auf neue Räder und Griffe. Dazwischen steht eine Handvoll fertiger Modelle. Für die Testfahrt entscheide ich mich für ein hellblaues Damenrad der Marke Liberta, das früher der Großmutter von Blancos tschechischer Frau gehörte. Er nimmt ein Universal, ein polnisches Rad, das vor 1989 auch in der Tschechoslowakei verkauft wurde.

Wenn sie nicht gerade etwas im Keller von Verwandten finden, suchen die Spanier online nach alten Fahrrädern. Schon ab hundert Kronen gibt es auf tschechischen Internetseiten Exemplare der einst begehrten Marken. Gerade arbeitet Blanco an einem Rad, für das er umgerechnet knapp vier Euro bezahlt hat. „Sein Zustand war schrecklich“, sagt der 36-Jährige. Von den Originalbauteilen – und damit vom Charme der Räder – will er so viel wie möglich erhalten. Die Reifen müssen aber fast immer erneuert werden und auch die Kette. Nötige Ersatzteile sollen zum Gesamtbild passen. Das macht die Arbeit kosten- und zeitintensiv. Dafür bleibt der Wiedererkennungswert: Kurz nachdem wir die Garage verlassen, kommen wir an drei Männern vorbei, die den im Stau steckenden Autos die Windschutzscheiben putzen. „Ah, Liberta“, ruft einer der drei uns hinterher und seine Kollegen drehen sich um. „So eines hatte ich …“, höre ich noch im Vorbeifahren, bevor der Verkehrslärm die Stimmen verschluckt.

Gefährliches Pflaster

Wir verlassen die Korunovační-Straße oberhalb des Platzes Letenské náměstí und nutzen die Fußgängerampel, um an den nördlichen Rand des Letná-Parks zu gelangen. Ob das erlaubt ist? Blanco zuckt mit den Achseln. „Lieber verstoße ich gegen irgendwelche Regeln, als dass ich überfahren werde.“ Er hält Prag für eine gefährliche Stadt für Radfahrer, vor allem im Zentrum: Die leicht zu übersehende Straßenbahn, die unberechenbaren Taxis und das unangenehme Kopfsteinpflaster machten es Radlern schwierig. Wer das umweltfreundliche Verkehrsmittel für den Weg zur Arbeit nutzen möchte, der brauche Glück: „Für mich ist es perfekt, ich muss einfach nur durch den Letná-Park“, sagt Blanco. Ein Jobangebot in einem anderen Stadtteil habe er sogar ausgeschlagen – auch weil er dann nicht mehr mit dem Rad ins Büro hätte fahren können. Stattdessen kam ihm bei einer seiner täglichen Touren der Gedanke, aus der Leidenschaft für alte Zweiräder eine Geschäftsidee zu machen.

Seit Ende vergangenen Jahres setzen Blanco und sein Kollege nun alte Räder instand, seit wenigen Monaten bieten sie außerdem geführte Touren an. „Wir wollen den Leuten nicht nur Sehenswürdigkeiten zeigen, sondern auch, wie man hier so lebt“, meint der aus Madrid stammende Wahl-Prager. In Spanien hat er als Journalist gearbeitet. Als er die Möglichkeit erhielt, einen kostenlosen Sprachkurs in der tschechischen Hauptstadt zu absolvieren, sagte er zu – und kam seitdem immer wieder zurück; vor sechs Jahren zog er schließlich an die Moldau. „Hier gehe ich mit meiner Tochter auf den Spielplatz, dort treffe ich mich mit meinen Kollegen zum Volleyball“, zeigt er während der Fahrt.

Als wir den Chotek-Park (Chotkovy sady) erreichen, habe ich mich langsam an meine Liberta gewöhnt. Das Quietschen des Sattels nehme ich kaum noch wahr. Meine rechte Hand sucht nicht mehr instinktiv nach einer Gangschaltung, wenn es leicht bergauf geht und ich nutze die Rücktrittbremse, wenn Hunde in die Quere kommen. Mit Blancos gemütlichem Tempo kann ich mithalten und gleichzeitig die Aussicht von Prags erstem öffentlichen Stadtpark aus genießen, der 1832 angelegt wurde.

Beliebte Fotomotive

Auch wenn der Blick auf Burg und Moldau für Einheimische nicht neu ist, fällt es bei strahlendem Sonnenschein schwer, die Kamera in der Tasche zu lassen – vor allem weil die Retro-Räder so fotogen seien, wie Blanco findet. „Die Tour eignet sich für Leute, die auf der Suche nach guten Selfie-Motiven sind“, sagt er. Außerdem müsse man eine gewisse Liebe für Altes mitbringen. Bei ihm sei die Begeisterung für Favorit, Eska und Co. aus seiner Leidenschaft für Geschichte und Radfahren gewachsen. Jetzt reicht sie so weit, dass es ihm oft schwer fällt, ein frisch restauriertes Exemplar zu verkaufen: „Das ist tragisch, die Räder sind für mich wie Kinder“, so der junge Vater. Während sein Kollege sich um die Mechanik kümmert, ist Blanco vor allem für die Kosmetik zuständig – für den neuen Anstrich und den Markenschriftzug zum Beispiel.

Auf dem Weg vom Hanau-Pavillon (Hanavský pavilon) zum Metronom lässt Blanco mir die Wahl zwischen einer Strecke mit kleiner Steigung und einer ebenen. Ich wähle die bequemere Variante. Er passe die Route ebenso an die Kunden an wie die Informationen zu Stadtgeschichte und Sehenswürdigkeiten, sagt der Spanier. Als wir das Fußballstadion von Sparta Prag passieren, erzählt er mir, dass der Rasen auf dem Spielfeld aus Deutschland stamme. Bei Besuchern aus Italien habe er die Ergebnisse der jüngsten Partien des AC Sparta gegen den SSC Neapel in der Europa League parat. Weitere Stationen der regulären Tour sind unter anderem der „Bruselský pavilon“, mit dem sich die Tschechoslowakei 1958 bei der Weltausstellung in Brüssel präsentierte, das angeblich älteste Karussell Europas sowie ein Stopp im Biergarten.

Wer die Gegend um den Letná-Park bereits kennt, wird während der zweieinhalbstündigen Tour, die auf Englisch oder Spanisch angeboten wird und 550 Kronen pro Person kostet, nicht viel Neues entdecken. Und auch wer beim Radfahren Wert auf einen bequemen Sattel legt und gern kräftig in die Pedale tritt, ist mit einer „Retro Bike Tour“ schlecht beraten. Gut geeignet ist sie dagegen für Prag-Besucher, die sich das Getümmel in der Altstadt lieber gemütlich von oben anschauen, mit spanischen Pragern ins Gespräch kommen und dabei ein wenig Sozialismus am eigenen Leib erfahren möchten.