Ukraine-Krise entzweit Visegrád-Staaten
Obama kündigt verstärkte Truppenpräsenz in Europa an. Polen applaudiert, Tschechien und Slowakei sind skeptisch
11. 6. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText: MArtin Nejezchleba; Foto: ČTK/Jan Koller
Die Bilder aus Warschau sollten Symbolkraft ausstrahlen, in Richtung der Bündnispartner ebenso wie in den Kreml. Barack Obama und Bronisław Komorowski im Gespräch mit Piloten aus beiden Ländern vor F16-Kampfflugzeugen. Kräftige Händedrücke, freundschaftliche Gespräche. Obama gab in Warschau bekannt: Die USA werde jene osteuropäischen Mitgliedstaaten des Militärbündnisses unterstützen, die sich durch die Ukraine-Krise von Russland bedroht fühlten. Dazu sollte auch die Truppenpräsenz der USA in Europa „im Licht der neuen Sicherheitsherausforderungen“ überprüft werden. Für die Militärpräsenz auf dem Kontinent soll bis zu einer Milliarde US-Dollar (knapp 735 Millionen Euro) bereitgestellt werden.
Auf dem Warschauer Schlossplatz wurde Obama dann noch deutlicher. Er warnte Russland vor weiteren Aggressionen in der Ukraine, die Annexion der Krim werde man niemals akzeptieren. Und: „Polen und auch Litauen und Rumänien werden niemals alleine stehen.“ Die Slowakei, ebenso direkter Nachbar der vom Bürgerkrieg geschüttelten Ukraine, nannte Obama nicht – ebenso wenig wie Tschechien. Und das hat seinen Grund.
Einer Präsenz von Nato-Truppen in ihren Ländern haben sowohl Bohuslav Sobotka als auch Robert Fico eine Absage erteilt. Und auch sonst zeigen sich die Länder der Visegrád-Gruppe (V4) in Anbetracht der Ukraine-Krise alles andere als einstimmig. Während Polens Verteidigungsminister Radosław Sikorski zur Schlüsselfigur bei den Verhandlungen zwischen der Regierung Janukowitsch und den Maidan-Demonstranten wurde und das Land heute aktiv die Hilfe der Nato sucht, verhält sich etwa Ungarn völlig anders. Viktor Orbán hatte im Mai wiederholt für Aufruhr gesorgt, indem er für eine Autonomie der ungarnstämmigen Bewohner der Ukraine warb. Woher rühren die unterschiedlichen Standpunkte der Visegrád-Länder? Hat eine Staatengruppe, die sich bei derart elementaren Fragen uneins ist, eine Zukunft?
Begonnen hatte das Gerangel um die tschechische Position zur neuen Nato-Strategie Anfang Mai. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters sagte Verteidigungsminister Martin Stropnický, ein Teil der Bevölkerung könne angesichts der Erinnerungen an die Besetzung durch die Truppen des Warschauer Paktes Schwierigkeiten mit der Stationierung fremder Truppen im Land haben. Damals hagelte es Kritik von Opposition und Koalition. Auch von Sobotka gab es einen Rüffel. Am vergangenen Dienstag dann, während des Obama-Besuchs in Polen, machte der Premierminister eine Kehrtwende und erklärte in Wien: „Die Tschechische Republik gehört nicht zu den Ländern, die nach einer Verstärkung der Nato-Streitkräfte in Europa rufen.“ Sein slowakischer Amtskollege Robert Fico schloss daraufhin eine Stationierung von Truppen in seinem Land aus. Auch er argumentierte mit den Erfahrungen von 1968.
Fauxpas oder Kalkül?
Präsident Miloš Zeman steuerte zwar noch am selben Tag in Warschau gegen und sagte, ihn würde eine „symbolische Präsenz“ von Nato-Truppen in Tschechien nicht stören. Und Stropnický, der am Dienstag im Nato-Hauptquartier in Brüssel weilte, bot den baltischen Staaten die Dienste der tschechischen Gripen-Kampfflugzeuge an – Sobotkas Botschaft aber machte die meisten Schlagzeilen im In- und Ausland. Für russische Staatsmedien sind die Aussagen von Sobotka und Fico ein gefundenes Fressen. „Tschechien unterstützt die Aufstockung der Nato-Truppen in Europa nicht“, schreibt etwa die deutschsprachige Online-Version der „Stimme Russlands“.
Hinter den kontroversen Äußerungen der beiden Regierungschefs sehen Experten jedoch vor allem innenpolitische Motive. Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen hatte im Mai die niedrigen Ausgaben für Streitkräfte und die Verteidigungsstruktur in Tschechien kritisiert. Während das Land bei der Staatsgründung 1993 noch 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungshaushalt investierte, lag der Anteil 2013 nur noch bei 1,1 Prozent. Glaubt man dem Experten für Sicherheitspolitik Michal Kořan, dann bereitet Sobotka mit seinen Aussagen das Feld, um den Forderungen der Nato nach höheren Budgets für die Armeen der Mitgliedsländer – die auch Obama in Warschau wiederholte – nachkommen zu können. Ein unpopulärer Schritt, für den Sobotka womöglich einen parteiübergreifenden Kompromiss sucht. Nach dem Motto: Wir sorgen selbst für die eigene Sicherheit und verlassen uns nicht nur auf die Nato.
Ein Ende der V4-Gruppe, die manche Beobachter prophezeien, schließt der Politologe Kořan zwar aus, allerdings mahnt er die Regierungen zu einer besonneneren Kommunikation. „Ich fürchte, dass erneut die Stimmung von Intoleranz und eifersüchtigem Wettbewerb entstehen könnte, die wir aus den neunziger Jahren kennen.“
Wie die neue Verteidigungsstrategie der Nato aussehen wird und ob es überhaupt zu einer Stationierung in Ostmitteleuropa und im Baltikum kommt, soll beim Nato-Gipfel Anfang September in Wales entschieden werden. Und trotz der großen Symbolik und schlagkräftigen Reden in Warschau: Ob die Milliarde US-Dollar am Ende fließen wird, steht ebenfalls in den Sternen. Denn was Obama in Warschau verschwieg: Für das großzügige Paket braucht er die Unterstützung des Kongresses. Und die ist alles andere als sicher.
Militärausgaben in ausgewählten NATO-Staaten
Anteil am BIP im Jahr 2013
Deutschland 1,4 %
Estland 2,0 %
Frankreich 2,2 %
Großbritannien 2,3 %
Italien 1,6 %
Lettland 1,0 %
Litauen 0,8 %
Polen 1,8 %
Rumänien 1,3 %
Slowakei 1,0 %
Slowenien 1,2 %
Tschechien 1,1 %
Türkei 2,3 %
Ungarn 0,9 %
USA 3,8 %
Quelle: SIPRI
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