Ukrainer für die Lücken
Tschechien braucht Fachkräfte. Die Regierung will 500 osteuropäische Experten ins Land holen
11. 11. 2015 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: APZ
Das Bruttoinlandsprodukt wächst immer schneller, der Anteil der Arbeitslosen sinkt unter sechs Prozent, jährlich entstehen bis zu 100.000 neue Stellen. Die tschechische Wirtschaft müsste allen Grund zum Jubeln haben, sollte man meinen. Doch zwischen den Erfolgsmeldungen ertönt ein Ruf immer lauter, der bisher weitgehend verhallt ist – der Ruf nach Arbeitskräften. „Viele Unternehmen in Tschechien haben langfristig Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden“, heißt es zum Beispiel in einem Positionspapier der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer. „Auf dem Arbeitsmarkt herrscht ein wachsender Mangel an qualifizierten Fachkräften, vor allem in technischen Berufen.“
Wie dringend manche Firmen mittlerweile nach Personal suchen, zeigte im September eine Umfrage des Verbandes für Industrie und Verkehr (Svaz průmyslu a dopravy): Unternehmen hierzulande wären sofort bereit, 5.000 Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern einen Arbeitsvertrag zu geben, so das Ergebnis – und das obwohl andere Meinungsumfragen in der Regel zu dem Schluss kommen, dass Flüchtlinge in Tschechien nicht willkommen sind.
Einige Wirtschaftsvertreter dagegen möchten Migranten in den Arbeitsmarkt integrieren. Sie sprechen sich dafür aus, bürokratische Hürden für Nicht-EU-Bürger abzubauen. Am Montag unternahm die Regierung einen ersten Schritt in diese Richtung – wenn auch einen kleinen. In einem Pilotprojekt will sie 500 Technik-Spezialisten aus der Ukraine ins Land holen. Bereits jetzt sind Ukrainer – nach den Slowaken – die größte Ausländergruppe in Tschechien. Im September lebten hierzulande laut Angaben des Tschechischen Statistikamtes mehr als 105.000 Ukrainer. Die Zahl ist allerdings seit 2009 rückläufig. Damals wurden noch rund 134.000 gezählt.
Wie Kabinettssprecher Martin Ayrer mitteilte, sollen die ukrainischen Experten ihre Arbeitserlaubnis in einem beschleunigten Verfahren bekommen. Sollte sich die Methode bewähren, könnte sie auch auf andere Berufsgruppen angewendet und auf Länder wie Usbekistan oder die Mongolei ausgedehnt werden. Wie in der Ukraine verzeichnen die Konsulate auch dort eine hohe Nachfrage nach einer Arbeitserlaubnis für Tschechien.
Wert legt die Regierung aber darauf, dass die ausländischen Facharbeiter keine Stellen bekommen, für die sich auch heimische Kräfte finden würden. „In der ersten Phase geht es vor allem um hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die in Tschechien fehlen“, erklärte Premier Bohuslav Sobotka (ČSSD). „Sie werden aber nur Posten besetzen, für die sich auf dem heimischen Markt mehr als 30 Tage niemand interessiert hat.“
Arbeits- und Sozialministerin Michaela Marksová-Tominová (ČSSD) will außerdem eine Analyse der freien Stellen anfertigen und sie mit den Profilen der Beschäftigungslosen vergleichen, die in der Datenbank des Arbeitsamtes erfasst sind. „Unser langfristiges Bestreben ist es, freie Stellen mit Hilfe von Umschulungen und anderen Instru-menten mit Arbeitslosen zu besetzen“, betonte Sobotka.
Auf dem tschechischen Arbeitsmarkt sieht es derzeit so gut aus wie seit der Wirtschaftskrise nicht. Die Arbeitslosenquote lag im Oktober bei 5,9 Prozent. Die Behörden zählten im ganzen Land knapp über 430.000 Menschen ohne Beschäftigung, ein neuer Tiefstand seit Februar 2009. Im Oktober 2014 hatte der Anteil der Arbeitssuchenden noch 7,1 Prozent betragen. Einen weiteren Rekord meldete in der vergangenen Woche das Tschechische Statistikamt (ČSÚ): Im dritten Quartal dieses Jahres seien 70,5 Prozent der 15- bis 64-Jährigen beschäftigt gewesen – so viele wie noch nie seit 1993.
Der Verband für Industrie und Verkehr begrüßte die Entscheidung der Regierung für das Pilotprojekt mit den Ukrainern, forderte jedoch zugleich, dass auch Angestellte mit geringer und mittlerer Qualifikation schneller eine Arbeitserlaubnis bekommen sollten. Eine ähnliche Auffassung vertritt die Tschechische Wirtschaftskammer. Ihren Vertretern zufolge sollten vor allem Migranten mit Gesellenbrief oder Abiturzeugnis die Möglichkeit bekommen, eine Stelle hierzulande anzutreten.
Angesichts des Wirtschaftswachstums könnten die fehlenden Kräfte in Arbeiterberufen zu einem „wirklich großen Problem“ werden, meint die Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer Irena Bartoňová Pálková. Gerade ukrainische Arbeitskräfte könnten die Lücke ihrer Meinung nach schließen.
Gewerkschaftsvertreter dagegen lehnen das neue System ab. Sie weisen darauf hin, dass ausländische Experten bereits jetzt die Möglichkeit hätten, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Über ihre Vorstellungen wollen sie beim nächsten Treffen mit der Regierung und Arbeitgebern verhandeln.
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