Unbeachtete Schicksale
Eine Fotoausstellung im Colloredo-Mansfeld-Palais gibt Einblicke in das Leben obdachloser Menschen
8. 9. 2016 - Text: Milena FritzscheText: Milena Fritzsche; Fotos: Martin Pokora
Jindřiška wünscht sich einen Ort zum Leben, ein Dach über dem Kopf. Alles wäre dann so viel einfacher, sagt sie. Jindřiška ist 1970 geboren und lebt seit 20 Jahren auf der Straße. Wie es dazu kam und wie es ihr geht, fragten die Macher der Wanderausstellung „Schicksale“. Das Projekt entwickelte der Fotograf Martin Pokora mit dem Prager Verein „Naděje“ („Hoffnung“), der sich seit 25 Jahren für Obdachlose einsetzt. Porträts und Texte erzählen die Geschichten von Menschen, an denen manche Besucher der Ausstellung vielleicht täglich vorbeilaufen, ohne ihnen Beachtung zu schenken.
Die Fotografien sind schwarz-weiß oder in gedeckten Farben gehalten. Sie beschönigen nichts, aber sie stellen auch nicht Leid und Elend in den Vordergrund. Pokora ist den Menschen, die er abgelichtet hat, mit Respekt begegnet – und das sieht man den Bildern auch an. In den vergangenen beiden Jahren hat Pokora für die Ausstellung 15 Orte in Tschechien aufgesucht, um Obdachlose zu treffen und sie mit der Kamera in ihrem Alltag zu begleiten. Die Bilder zeigen eindrücklich, wo und wie die Menschen leben. Einige Fotografien ergänzen Texte über das Schickasl der abgebildeten Person.
Alle Protagonisten eint, dass sie bereits seit mehreren Jahren ohne ein festes Zuhause auf der Straße leben. Manche hat eine Reihe ungünstiger Umstände in die Obdachlosigkeit geführt. Jindřiška etwa ist im Kinderheim aufgewachsen und hat nur die Grundschule erfolgreich abgeschlossen. Sie arbeitete als Tellerwäscherin und später in einer Fabrik. Ihr Leben verlief nie in geraden Bahnen. Sie verliebte sich, bekam zwei Kinder, doch ihr Mann trank und griff sie an. Sie trennte sich von ihm und stand ohne Besitz da, die Kinder konnten weder bei ihr noch beim Vater bleiben. Seitdem lebt Jindřiška auf der Straße. Wie die anderen Obdachlosen, die Martin Pokora fotografiert hat, hadert sie mit ihrem Schicksal. Einen Ausweg aus ihrer Situation weiß sie momentan nicht.
Im nahe der Karlsbrücke gelegenen Colloredo-Mansfeld-Palais bilden die Aufnahmen und Geschichten der Obdachlosen einen Kontrast zu den Räumen im Stil des Barock und Rokoko. Das mag befremdlich wirken, doch es macht das Anliegen der Initiatoren umso deutlicher: Menschen, die auf der Straße leben, gehören genauso ins Herz der Stadt wie die prunkvollen Paläste im Zentrum. Besucher sollen nicht nur dort hinsehen, wo es glänzt, sondern auch dort, wo Menschen in Not sind. Das wünscht sich auch Vojtech, der sich ebenfalls von Pokora fotografieren ließ. Er möchte, „dass die Menschen einfach zuhören und Interesse an unseren Geschichten zeigen“.
Osudy. Galerie hlavního města Prahy – Colloredo-Mansfeldský palác (Karlova 2, Prag 1), geöffnet: täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei, bis 2. Oktober, www.ghmp.cz und www.pokorasnadeji.cz
„Wir wollen das Verbindende zeigen“
„Befreite Frauen“