Unerfüllte Hoffnung
Politiker zeigen sich enttäuscht über tschechischen Kommissionsposten und suchen nach Erklärungen
17. 9. 2014 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: MRR ČR
Aus 3 wird 1: Bisher waren drei EU-Kommissare für die Bereiche Justiz, Verbraucherpolitik und Gleichstellung der Geschlechter zuständig. In der kommenden Legislaturperiode kümmert sich nur noch eine Kommissarin darum, sie heißt Věra Jourová (ANO) und kommt aus Tschechien. Nach dem monatelangen Tauziehen um einen Nachfolger des bisherigen Erweiterungskommissars Štefan Füle sollte die in der Vorwoche getroffene Entscheidung eigentlich Anlass zur Freude geben. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sowohl Regierungsvertreter als auch Staatspräsident Miloš Zeman, Politologen und Wirtschaftsverbände machten keinen Hehl daraus, dass das zugewiesene Ressort einer großen Enttäuschung gleichkommt.
„Ich bin wirklich enttäuscht über diesen Misserfolg, weil ich Jourová gegönnt hatte, dass sie das bekommt, was sie die ganze Zeit gemacht hat“, sagte Zeman und spielte damit auf das Ressort für Regionalpolitik an, für das derzeit noch der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn verantwortlich ist. Dass die scheidende Ministerin für regionale Entwicklung in Tschechien weder diesen noch den ebenfalls von der Prager Regierung favorisierten Verkehrsbereich leiten wird, sei Zeman zufolge auch auf eine missglückte Lobbyarbeit zurückzuführen. „Wenn sie etwas effektiver ausgefallen wäre, hätte es eine realistische Chance gegeben“, vermutete Zeman.
Jourovás Parteichef, Finanzminister Andrej Babiš, hatte einen anderen Sündenbock ausgemacht. „Fragen Sie den Herrn Premier, was er da ausgehandelt hat, ich saß nicht mit am Verhandlungstisch“, reagierte Babiš auf die Besetzung der neuen Kommission von Präsident Jean-Claude Juncker, die am 1. November ihre Arbeit aufnehmen soll. Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka (ČSSD) gehörte dann auch zu den wenigen Spitzenpolitikern, die sich über Jourovás Posten in Brüssel offiziell freuten. „Für ein Land wie Tschechien ist dieses Ressort ein Erfolg und eine Anerkennung unserer Qualitäten“, gab Sobotka zu Protokoll und hob hervor, dass diese „durchschnittlich bedeutenden Zuständigkeiten“ schließlich auch eine wirtschaftliche Ausrichtung hätten. Den Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Europäischen Union hatte der Premier zuvor zur Priorität erklärt.
Überflüssige Diskussion
Den Vorwurf des konservativen Europaabgeordneten Evžen Tošenský (ODS), dass sich die Regierung erst „in letzter Minute“ auf einen Kandidaten geeinigt habe und die „interessanten Bereiche“ zu dieser Zeit bereits hinter verschlossenen Türen vergeben worden waren, hat man unter den Oppositionspolitikern in den vergangenen Tagen häufiger gehört.
Für den Politologen Stanislav Myšička von der Universität in Hradec Králové sind die ganzen Diskussion und Schuldzuweisungen überflüssig. „Für Tschechien bringt das Ressort zwar keinerlei Vorteile, aber das wäre doch auch bei anderen so gewesen“, so Myšička. Die heimische Politik, nicht nur die tschechische, würde sich seinen Worten zufolge einen gewissen Einfluss über den eigenen Kommissar erhoffen – ein Irrglaube. „Denn alle Kommissare sind einem ungeheuren Druck von ganz vielen Seiten ausgesetzt“, glaubt der Politik-Experte. Nationale Interessen könne man in der EU-Kommission nur schwer durchsetzen.
Dennoch herrscht auf der politischen Ebene die Ansicht vor, die Tschechische Republik habe sich nicht durchsetzen können und damit eine Niederlage eingefahren – sei es aufgrund der jahrelangen Außenseiterrolle in grundlegenden EU-Fragen oder des Streits um die Kandidatur, der auch in Brüssel bemerkt wurde. Jiří Dienstbier, Minister für Menschenrechte und Gleichberechtigung, hegt noch einen anderen Verdacht: „Nach meinen Informationen haben einflussreiche Europaabgeordnete, zum Beispiel die deutschen, dagegen protestiert, dass wir das Ressort für Regionalpolitik bekommen. Und wahrscheinlich auch noch gegen weitere, weil es wegen der engen Verbindungen zu Andrej Babiš zu einem Interessenkonflikt hätte kommen können.“ Der Finanzminister hatte vor seinem Einstieg in die Politik den international agierenden Chemie- und Lebensmittelkonzern Agrofert aufgebaut und übt angeblich noch heute großen Einfluss auf die tschechische, deutsche und slowakische Wirtschaft aus.
Der Vorsitzende der ANO-Fraktion im Abgeordnetenhaus hat eine ganz plausible Erklärung: „In Europa nehmen sie uns wohl als kleinen Staat wahr.“ Doch die Rechnung, dass ein kleines Land ein weniger wichtiges Ressort bekommt, geht nicht auf. Denn die von Tschechien gewünschten Posten für Regionalpolitik und Verkehr gingen an die Kandidaten aus Rumänien und der Slowakei. Und Kommissionspräsident Juncker, der aus Luxemburg kommt, hat vier Kommissare aus ehemaligen Ostblockstaaten zu seinen Stellvertretern ernannt.
Tschechiens neue EU-Kommissarin
Nur sechs Wochen nachdem Věra Jourová von der tschechischen Regierungskoalition als EU-Kommissarin nominiert worden war, bekam sie ihr Ressort zugewiesen: Ab November dieses Jahres wird die 40-Jährige in Brüssel für die Bereiche Justiz, Verbraucherpolitik und Gleichstellung zuständig sein. Seit dem Jahr 2000 setzte sich die Juristin mit Fragen der regionalen Entwicklung auseinander, als Staatssekretärin war sie vor allem für die EU-Strukturförderung zuständig. Bei den Parlamentswahlen 2013 trat die frühere Sozialdemokratin als Spitzenkandidatin der ANO-Partei im Kreis Vysočina an und wurde im Januar 2014 zur Ministerin für Regionalentwicklung ernannt. Ungewöhnlich: Im Jahr 2006 saß sie einen Monat in Untersuchungshaft. Als Stellvertreterin des Ministers Martínek (ČSSD) soll sie öffentliche Gelder veruntreut haben. Die Vorwürfe stellten sich jedoch als falsch heraus. (mh)
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