„Unser Herz fühlt mit allen Unterdrückten aller Völker“
Zum 125. Geburtstag von Franz Werfel. Mit „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ verfasste er einen Roman, der heute brandaktuell ist
10. 9. 2015 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Bild: Werfel-Porträt von Erich Büttner (um 1920)/APZ
Der am 10. September 1890 in Prag geborene Franz Werfel gehörte in den zwanziger und dreißiger Jahren zu den meistgelesenen Autoren deutscher Sprache. Der Sohn eines wohlhabenden, jüdischen Textilfabrikanten feierte bereits mit 21 Jahren seinen literarischen Durchbruch: Im Lyrikband „Der Weltfreund“ warb er euphorisch für Frieden, Brüderlichkeit und Völkerverständnis. Seine Romane „Verdi. Roman der Oper“, „Der Abituriententag“, „Barbara oder die Frömmigkeit“ standen jahrelang auf den Bestsellerlisten, ebenso wie seine im Exil verfassten Werke „Der veruntreute Himmel“ und „Das Lied von Bernadette“. Nachdem die Deutschen Österreich besetzt hatten, floh Werfel zusammen mit seiner Frau Alma, die zuvor mit Gustav Mahler und Walter Gropius verheiratet war, über Frankreich und Spanien in die USA, wo er am 26. August 1945 starb.
Heute ist Franz Werfel nahezu in Vergessenheit geraten. Seine traditionelle Erzählweise, sein gelegentliches Pathos, seine Neigung zu einer mystischen Frömmigkeit mögen dazu beigetragen haben. Bei seinen Prager jüdischen Freunden Max Brod und Franz Kafka stieß er mit seiner Hinwendung zum Katholizismus auf völliges Unverständnis.
Doch nun – 125 Jahre nach seiner Geburt und 100 Jahre nach dem Völkermord der Türken an den Armeniern – erlebt Franz Werfel ein Comeback, vor allem als Verfasser von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. In Zusammenarbeit haben drei deutsche Rundfunksender den Roman als Hörspiel produziert. Das Staatstheater Nürnberg veranstaltete eine 40-Stunden-Lesung des 900 Seiten starken Romans. Und das Maxim-Gorki-Theater in Berlin erinnerte mit dem Stück „Musa Dagh: Tage des Widerstands“ an den Völkermord an den Armeniern.
In seinem Buch erzählt Werfel von dem Massenmord der Türken, dem über eine Million Menschen zum Opfer fielen, und vom Widerstand der etwa 5.000 Armenier, die sich auf dem Berg Musa Dağı an der Mittelmeerküste verschanzt hatten. Sie konnten die Angriffe der türkischen Armee erfolgreich abwehren und wurden schließlich von der französischen Kriegsmarine gerettet.
Kaum ein Buch des 20. Jahrhunderts besitzt heute eine größere Aktualität als „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Werfel, der sein Buch 1932/33 schrieb, hat damit die Gräueltaten des Holocaust vorweggenommen. Marcel Reich-Ranicki erzählte später, wie einige Juden im Warschauer Ghetto über Kerzenlicht gebeugt den Roman lasen. Dabei weinten sie und erkannten sich wieder.
„Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. (…) Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. (…) Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf.“ Und an anderer Stelle schreibt Werfel: „Es sind keine Menschen mehr … Gespenster … Doch nicht von Menschen … Gespenster von Affen … Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen … Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr, die Zehntausenden von Leichen zu begraben.“
Es scheint, als hätte Werfel auch die Völkermorde und ethnischen Säuberungen nach 1945 in Kambodscha, Uganda, Ruanda, Tschetschenien und in Ex-Jugoslawien vorausgesehen. Wenn er die Verzweiflung der armenischen Flüchtlinge beschreibt, vergegenwärtigt er beim heutigen Leser das Elend der Kriegsflüchtlinge aus Syrien und den afrikanischen Ländern.
Es war die Begegnung mit armenischen Flüchtlingen im Jahr 1929 in Damaskus, die Werfel erschütterte: „Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich allen Geschehens zu entreißen“, schrieb Werfel 1933 in der Vorrede seines Romans.
Noch hundert Jahre nach dem Geschehen, weigert sich die türkische Regierung, ihre Verantwortung für den Völkermord einzugestehen und reagiert mit Entrüstung, wenn eine nur langsam wachsende Zahl von Staaten die Verbrechen beim Namen nennt. In der Türkei müssen Menschen, die das Land für den Genozid verantwortlich machen, noch immer mit Strafverfolgungen rechnen. Im Jahr 1915 erklärte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ In Deutschland hat es hundert Jahre gedauert, bis Bundespräsident Joachim Gauck das Tabu vom Völkermord durchbrach.
Wie Moses im gelobten Land
Als Hitler 1939 seine Pläne von der Judenvernichtung seinem Generalstab vorlegte, äußerten einige Offiziere Bedenken. Hitler konterte: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Werfels Buch wurde zwei Monate nach seinem Erscheinen verboten und gehörte zu den Werken, die am 10.Mai 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer fielen. Angesichts der Verdrängung des Massenmordes war sich Werfel bewusst, dass man ihm vorwerfen würde, die Gräueltaten der Türken zu dramatisieren. Zwei Jahre lang betrieb er gründliche Recherchen für seinen Roman. Er bat Freunde und Bekannte, ihn bei der Durchsicht von Archiven und Dokumenten zu unterstützen, ließ sich Protokolle und Augenzeugenberichte zuschicken, darunter sogar Wetteraufzeichnungen aus jener Zeit.
Neben präzisen Schilderungen des Leidens widmet sich Werfel vor allem dem Widerstand der Armenier auf dem Berg Musa Dağı. In seinem Roman wird er von Gabriel Bagradian organisiert, der mehr als 20 Jahre in Frankreich gelebt und sich der europäischen Lebensweise angepasst hat. Als der junge Mann seine armenische Heimat am Fuße des Musa Dağı besucht, wird er Zeuge der Deportationen seiner Landsleute. Es gelingt Bagradian, 5.000 Armenier für den Plan zu gewinnen, sich auf dem Berg gegen die Türken zu verteidigen. Durch das Zusammenleben mit den Armeniern und den gemeinsamen Abwehrkampf findet Bagradian zu seinen armenischen Wurzeln zurück. Bei der Überfahrt in eine neue Heimat bleibt er am Ufer zurück und wird von einer türkischen Kugel tödlich verwundet.
Werfel verleiht Bagradian die Züge eines wiedererweckten Moses, der aus der Fremde kommt, um sein Volk in das gelobte Land zu führen, das er selbst aber nicht mehr betreten wird. Auch mit der Zahl 40 spielt Werfel auf biblische Erzählungen an: 40 Jahre zieht Moses mit den Israeliten durch die Wüste, 40 Tage verbringt er auf dem Berg Moses und leitet die Menschen dazu an, ihr Leben nach den Geboten Gottes auszurichten. Für Werfel ist es der Glaube, aus dem die Menschen den Mut zum Überlebenskampf schöpfen.
Keine Schwarz-Weiß-Malerei
Von den Armeniern wird Werfel bis heute als Held gefeiert; sein Buch hat den Rang eines armenischen Nationalepos erlangt. Es enthält eine klare Botschaft. Bereits 1917 hatte Werfel bekannt: „Unser Herz fühlt connational mit allen Unterdrückten aller Völker. Unser Geist hasst die Macht- und Selbstbewußtseinsform aller Völker.“ In Europa wurde das Massaker an den Armeniern als typisch asiatisch-barbarische Tat erklärt. Werfel machte dagegen den europäischen Nationalismus dafür verantwortlich. Die Modernisierung habe bewirkt, dass der religiöse Glaube durch den Nationalismus zunehmend verdrängt worden sei. Die jungtürkische Regierung habe diesen nihilistischen Nationalismus von Europa übernommen. Ein alter Scheich resümiert in „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ bitter: „Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurückläßt, wenn er daraus vertrieben wird.“
Werfel vermeidet Schwarz-Weiß-Malerei, wonach gute Armenier hasserfüllten Türken gegenüberstehen. In einer Randnotiz in seinem Manuskript findet sich die Mahnung: „Nicht gegen Türken polemisieren.“ Er lässt türkische Intellektuelle und muslimische Geistliche zu Wort kommen, die ihren Abscheu gegenüber den türkischen Machthabern ausdrücken.
Franz Werfel ist in Prag geboren, in der Hauptstadt eines Landes, in dem einer aktuellen Umfrage zufolge 94 Prozent der Bevölkerung eine Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen.
Bis 20. September präsentiert das Österreichische Kulturforum in Prag die Freiluftausstellung „Franz Werfel in Wort und Bild“. Am Platz der Republik, der U-Bahn-Station Malostranská und am Wendischen Seminar geben Plakate auf vier Litfaßsäulen einen Einblick in Leben und Werk des Schriftstellers.
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