Das Ende des Habsburgerreiches
Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn dem Königreich Serbien den Krieg und leitete damit sein eigenes Ende ein. Aus der rund 600-jährigen Geschichte des Vielvölkerstaates kann auch die Europäische Union so manche Lehren ziehen
23. 7. 2014 - Text: Timothy SnyderText: Timothy Snyder; Foto: Rudolf Bruner-Dvořák/Jaroslav Kučera
Was hielt die Habsburgermonarchie zusammen, was ließ sie auseinanderfallen und was könnte das für die Europäische Union bedeuten? Zugegeben: Die Frage impliziert eine gewisse Gegenpropaganda, denn es herrscht in weiten Kreisen die Ansicht vor, dass die Habsburgermonarchie so oder so dem Untergang geweiht war, dass sie immanente Mängel aufwies, an denen sie zwangsläufig scheitern musste. Dieser Gedanke entspringt einerseits der Tatsache, dass Frankreich, England und die USA den Ersten Weltkrieg gewonnen haben, und andererseits dem Umstand, dass die Habsburger Feinde waren, obwohl bis heute eigentlich nicht ganz klar ist, warum das so war. Deshalb blickt man in diesen Ländern auch etwas triumphierend auf das Schicksal der Habsburgermonarchie, jedoch nicht ohne schlechtes Gewissen. Dies wiederum führte zu der Haltung, dass die Habsburger Kaiser „verrückt, schlecht und unfähig zu herrschen“ gewesen seien.
Einige von ihnen waren tatsächlich verrückt, einige tatsächlich schlecht und einige tatsächlich unfähig zu herrschen. Aber nichtsdestotrotz haben wir es mit einem Gebilde zu tun, der zehnmal länger existierte, als das europäische Integrationsprojekt bis jetzt andauert, und dreimal länger, als es die Vereinigten Staaten gibt. Wir sprechen hier von einem Herrschaftsgebiet, das es rund 600 Jahre lang gegeben hat.
Zunächst stellt sich die Frage, wie dieses Reich überhaupt so lange bestehen konnte? Wenn das Projekt der europäischen Integration noch weitere 550 Jahre Bestand hätte, würden wir das als großen Erfolg betrachten. 600 Jahre sind eine sehr lange Zeitspanne, (…) für ein Kaiserreich in der Mitte Europas, für das größte Reich in der Weltgeschichte. Die Redensart vom Reich, in dem die Sonne niemals untergeht, bezog sich ursprünglich nicht auf das British Empire, sondern auf die Habsburgermonarchie. In der frühen Neuzeit kontrollierten die Habsburger Kaiser Spanien und Portugal, später auch die Niederlande, und damit auch deren Gebiete in Übersee. Das bedeutet, dass sie eigentlich einen Großteil der Welt beherrschten. Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert stellte die Habsburgermonarchie schließlich ein multinationales europäisches Reich dar.
Kompromiss der Eliten
Wie sind die Habsburger mit dem Problem des Nationalismus umgegangen, das wir heute als grundlegend für die Europäische Union ansehen? Es gilt hervorzuheben, dass der Nationalismus sowohl für Habsburg als auch für die EU ein allgemeines und weniger ein spezifisches Problem darstellt. Am einfachsten ist das wohl damit zu erklären, dass es diese verschiedenen Gemeinschaften beziehungsweise Minderheiten gibt, die den Mehrheiten Probleme bereiten. Den Nationalismus im 19. Jahrhundert, genauso wie den von heute, sollte man korrekterweise als europäisches Problem in einem größeren institutionellen Rahmen betrachten. In der Habsburgermonarchie gab es institutionelle Strategien, den nationalen Fragen zu begegnen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts breitete sich der Nationalismus im ganzen Reich aus, angefangen bei Napoleon zu Beginn des Jahrhunderts bis hin zu den Revolutionen von 1848 – nicht zu vergessen die Nationalismen, die das Reich umgaben. Darauf gab es aber Antworten.
Diese umfassten zunächst die Zusammenarbeit mit den Eliten. Der berühmte Ausgleich von 1867, der Österreich in Österreich-Ungarn verwandelte, war nichts anderes als ein Kompromiss mit den ungarischen Eliten. Auch der weniger bekannte, jedoch nicht minder bedeutende Ausgleich mit den polnischen Eliten in Galizien sorgte dafür, dass die Habsburger im Osten weiter herrschen konnten. In der Folgezeit gab es noch weitere Kompromisse mit anderen Ländern, die in ihrer Komplexität alles übersteigen, was die Europäische Union bislang erreicht hat.
Die Vorstellung der EU, man könne den Frieden bewahren, indem bestimmte Leute für außergewöhnlich lange Zeit in einen Verhandlungsraum geschickt werden, entspricht auch der Methode der Habsburgermonarchie im frühen 20. Jahrhundert. Nehmen wir etwa den Mährischen Ausgleich, der unter anderem regelte, dass jedes mährische Schulkind eine Nationalität zugeschrieben bekam und somit tschechische Kinder nur noch auf tschechische und deutsche Kinder nur noch auf deutsche Schulen geschickt wurden. Ein anderes Beispiel ist der Galizische Ausgleich, der vom Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde und auch für Polen, Ukrainer und Juden in Galizien gegolten hätte. All diese Dinge sind mittlerweile vergessen (außer von Rechtshistorikern in Mitteleuropa), obwohl sie unglaublich interessant sind: Sie zeigen, dass die Monarchie nicht nur in der Lage war, mit den Eliten Kompromisse zu schließen – was relativ einfach ist –, sondern diese auch für kommende Generationen auszuhandeln. Und auch wenn sie vielleicht nicht funktioniert haben, gab es zumindest den Wunsch, über gegenseitige Zugeständnisse zu einer Übereinkunft zu kommen.
Daneben gab es natürlich noch andere Strategien, dem Nationalismus entgegenzutreten. Eine davon war das Parlament. Der Ausgleich mit dem ungarischen Adel gefiel der nichtungarischen Mehrheit in Südungarn ebenso wenig wie den Nichtadligen und der nichtpolnischen Mehrheit in Galizien, nachdem es dort zum Ausgleich mit dem polnischen Adel gekommen war. Die Kompromisse mit den Eliten zwangen die Habsburger, auch hier nach einer anderen Lösung zu suchen. Sie fanden diese im Parlament und in dessen Erweiterung, was schließlich im Jahre 1907 im allgemeinen Wahlrecht mündete. Das österreichische Parlament war wirklich national; wenn man vom Ausschluss der Frauen absieht, war es ein unglaublich repräsentatives Parlament. Zum Vergleich: Als Woodrow Wilson gegen Ende des Ersten Weltkriegs sein berühmtes 14-Punkte-Programm verlas, saß kein einziger schwarzer Abgeordneter im Kongress der Vereinigten Staaten. Hingegen war im österreichischen Parlament jede einzelne Nationalität vertreten.
Dies war nur ein Weg, der nationalen Frage zu begegnen. Ein anderer lief über die Einrichtung zentraler Institutionen, von denen die wichtigste im 19. Jahrhundert der Kaiser selbst war. Die Tatsache, dass Franz Josef von 1848 bis 1916 regierte, führte dazu, dass fast jeder Bürger zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter keinem anderen Kaiser gelebt hatte und er als Staatsoberhaupt nationale Fragen bis zu einem gewissen Grad absorbieren konnte. Franz Josef beherrschte die meisten Sprachen, die im Habsburgerreich gesprochen wurden. Egal, wo er hinkam: Er sprach zu den Menschen in deren Muttersprache, und er präsentierte sich ihnen gegenüber als eine übernationale Figur.
Die andere zentrale Institution mit übernationalem Charakter und einer überaus großen Bedeutung war die Bürokratie, insbesondere das Offizierskorps. Dessen gesamtes Erscheinungsbild zeigt sehr gut, dass sie im Habsburgerreich einerseits großen Einfluss hatte, andererseits aber auch übernational war und sich loyal gegenüber den staatlichen Institutionen und der Monarchie als solche verhielt. Einige der Nationen trieben ihrerseits eine Zentralisierung voran. Wenn man an nationale Interessen denkt, kommen einem Nationen in den Sinn, die den Reichsverband verlassen wollen und deshalb Unruhe stiften.
Aber in vielen Fällen wollen Nationen den Reichsverband auch bewahren. Nehmen wir den Fall der „aufsässigen“ Tschechen, die inmitten der Habsburgermonarchie lebten. Im Grunde genommen war jeder tschechische politische Denker im 19. und 20. Jahrhundert – von Palacký bis Masaryk – der Ansicht, es sei das Beste, die Habsburgermonarchie zu erhalten, und nicht in Einzelteile zu zerlegen. Warum? Weil die Tschechen nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie einem vereinigten deutschen Nationalstaat gegenübergestanden hätten und bedroht gewesen wären – eine Analyse, die sich im 20. Jahrhundert als treffend herausstellte. Genau aus diesem Grund war den Tschechen viel am Fortbestand der Habsburgermonarchie gelegen. Das erklärt übrigens auch, warum den kleineren Staaten im Osten Europas die Europäische Union so wichtig ist. „Verwundbare“ Staaten, die einer multinationalen Institution angehören, wissen nur allzu genau, dass eine dauerhafte Zugehörigkeit in ihrem eigenen Interesse liegt und eine Rückkehr zum bloßen Nationalstaat eine Gefahr darstellen würde. Der einzige Grund, warum die Tschechen im Laufe des Ersten Weltkriegs ihre Position änderten, lag in der Erkenntnis, dass es nach dem Krieg ohnehin einen vereinten deutschen Nationalstaat geben würde. Solange es noch Hoffnung für ein Überleben der Habsburgermonarchie gab, traten die Tschechen im Wesentlichen auch für sie ein.
Das führt uns zum deutschen Problem. Wenn man eine Nation finden will, die die Habsburgermonarchie verraten hat, muss man nicht lange suchen: Es sind die Deutschen. Die einzige politische Partei, die sich der Monarchie gegenüber wirklich hinterhältig verhielt, war die Deutschnationale Bewegung von Georg von Schönerer, die gerade in Wien große Bedeutung hatte. Ihre Anhänger waren es, die sich in politisch verräterischer Weise dem 1871 entstandenen Deutschen Reich anschließen wollten – zu einer Zeit, da die Monarchie noch existierte. (…) Der Nationalismus kam nicht von innen heraus. Das Habsburgerreich war keine Ansammlung von Nationalitäten, die danach strebten, aus ihm auszutreten und die gegen die Monarchie kämpften. Es stellte vielmehr eine Ansammlung von komplexen Problemen dar, die ebenso komplexe Lösungen erforderten. Der Grund, warum der Nationalismus zu einem Problem wurde, war nicht, dass die Habsburgermonarchie einem „Vielvölkergefängnis“ glich – das war sie ganz bestimmt nicht. Es hat etwas mit dem Rest der Welt zu tun. Dort äußerte sich etwas, was man mit dem Gegenteil von Integration bezeichnen könnte.
Streben nach Autonomie
Das, was die Habsburger – genauer gesagt Kaiser, Parlament und Offizierskorps – verfolgten, kann durchaus als eine Politik der Integration betrachtet werden. An den Grenzen der Habsburgermonarchie allerdings ließ sich die gegenläufige Tendenz beobachten – das Streben nach nationaler Eigenständigkeit. (…) So kam es zur italienischen und deutschen Einigung sowie zu ersten Ansätzen für eine jugoslawische und polnische Einigung. All dies spielte sich an den Grenzen der Habsburgermonarchie ab, woraus ein grundlegendes Problem entstand: Mit der nationalen Selbstbestimmung kann es keine multinationale Monarchie mehr geben. Die Deutschen, aber auch andere Völker der Habsburgermonarchie beobachteten diese nationalen Einigungsbewegungen genau. Doch das war es nicht, was die Monarchie untergehen ließ. Es bedurfte schon des schlimmsten Kriegs in der Geschichte des modernen Europa und der Niederlage der Mittelmächte, um die Habsburgermonarchie endgültig zu begraben.
Das Ende Habsburgs lässt sich auch aus einem anderen Blickwinkel erklären: Eine wichtige Rolle spielte der Dritte Balkankrieg. Die ersten beiden Balkankriege von 1912 und 1913 richteten sich gegen das Osmanische Reich, der dritte von 1914 indes gegen die Habsburgermonarchie. Aufgrund einer Reihe von Zufällen entwickelte sich diese Auseinandersetzung zu einem Weltkrieg, der die Habsburgermonarchie untergehen ließ.
Der dritte Balkankrieg ist darum wichtig, weil er für ein allgemeines Muster steht. Das Königreich Serbien versuchte damals das zu vereinen, was es als serbische Nation ansah. Und damit provozierte es die Habsburger zu einem sehr dummen Krieg.
Was nun genau zerstörte die Habsburgermonarchie? Zunächst die physische Beseitigung des Offizierskorps. Ende des Jahres 1914 waren die meisten Offiziere tot oder so schwer verwundet, dass sie nicht mehr an der Politik teilhaben konnten. Der Krieg vernichtete alle kaisertreuen Klassen und machte die gesamte Bevölkerung für äußere nationale Propaganda empfänglich. Die Briten und dann die Amerikaner bedienten sich während des Kriegs konsequent nationalistischer Propaganda, um die Habsburgermonarchie von innen her auszuhöhlen.
Der zweite Faktor war der Hunger, denn Hunger macht die Menschen empfindlich gegenüber ethnischen Unterschieden. Der letzte Grund war, dass der Krieg mit mehreren Friedensverträgen endete, durch die Mitteleuropa „balkanisiert“ wurde. Der Krieg begann wegen nationalistischer Strömungen auf dem Balkan. Und er endete damit, dass die Alliierten ihre Balkan-Lösung auch dem Rest Europas überstülpten. Sie fegten den multinationalen Staat von der Landkarte, indem sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also die Idee der nationalen Souveränität, über alles andere stellten und damit das Problem, das den Krieg auslöste, auf den Großteil des Kontinents übertrugen.
Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Ganzen für heute ziehen? Das Erste, was diese Geschichte aufzeigt, ist, dass Integration über einen sehr langen Zeitraum hinweg möglich ist. Das Zweite ist, dass neutrale Eliten von entscheidender Bedeutung sind. Ob man von einer europäischen Monarchie oder einem europäischen Fußballteam träumt – eine Institution, die ein symbolisches Gewicht hat, ist enorm wichtig. Eine solche ist zum Beispiel ein Parlament, das nicht ausschließlich als Rechtssubjekt betrachtet wird. Im Fall der Habsburgermonarchie war es zudem der Fiskus. Eine weitere Säule war das Offizierskorps – weshalb man heute auch die Gründung einer europäischen Militärakademie erwägen sollte. Die Lehre aus dem Ende des Habsburgerreichs lautet: Man sollte ein sehr großes Offizierskorps besitzen, es jedoch keine dummen Kriege führen lassen. In Friedenszeiten ist diese Klasse ein Motor der Integration. Wer aber dumme Kriege führt und damit sein Offizierskorps beseitigt, der entledigt sich dessen ursprünglicher Absicht.
Die Bedrohung der Habsburgermonarchie kam nicht von innen und auch nicht direkt von außen. Sie entstand zu der Zeit, als rivalisierende Nationalbewegungen begannen, auf das Innere des Habsburgerreichs einzuwirken. Heute sind es ebenfalls separatistische Strömungen, die – wenn sie genügend Zulauf bekämen – Anlass geben, sich um die Europäische Union zu sorgen. Abgesehen von Ungarn, das man als Speerspitze eines künftigen autoritären Lagers betrachten kann, besteht in dieser Hinsicht jedoch keine Gefahr.
Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Permanent Fellow beim Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen. Zuletzt ist 2013 von ihm und Tony Judt gemeinsam bei Hanser auf Deutsch erschienen: „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“. Der Text erschien zunächst auf Englisch im Magazin des IWM (www.iwm.at).
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