Vermächtnis einer großen alten Dame

Vermächtnis einer großen alten Dame

Die Schriftstellerin Gudrun Pausewang (90) ist seit Jahrzehnten eine Versöhnerin zwischen Deutschen und Tschechen. „Das tschechische Volk ist genau so freundlich und unfreundlich wie das deutsche“, sagt die Heimatvertriebene heute. Kurz und bündig

30. 3. 2018 - Text: Klaus Hanisch

Viel schreiben, sagt Gudrun Pausewang, könne sie nicht mehr. Nun, da sie Anfang März 90 Jahre alt wurde. Auch keine Interviews mehr geben. Aber Briefe könne sie noch schreiben, ließ sie zu ihrem Ehrentag wissen. Also baten wir Gudrun Pausewang, uns ein paar Fragen schriftlich zu beantworten, in aller Ruhe und nach den Aufregungen und Feiern zu ihrem runden Geburtstag. Über ihren Verlag Ravensburger ließ sie uns nun ihre An- und Einsichten zukommen. Man kann sie mit Fug und Recht das Vermächtnis einer großen alten Dame nennen [zum Interview: „Ich habe in vielen Menschen etwas bewirkt“]. Denn Gudrun Pausewang hat einen bemerkenswerten Lebensweg hinter sich. Geboren in dem kleinen Dorf Wichstadtl (Mladkov) im Adlergebirge, gefangen in der Propaganda der Nationalsozialisten, mit 17 Jahren aus der Heimat vertrieben, danach als Lehrerin tätig, Schriftstellerin aus Leidenschaft, eine Ikone der Friedens- und Umweltbewegung – und rastlose Vermittlerin zwischen Deutschen und Tschechen. „Wehret den Anfängen“, warnt sie seit Langem. Ihr Leben erfüllt dieses abgedroschen klingende Motto mit Inhalt.

Mit ihrem alten Heimatort verband Pausewang über all die Jahre die Rosinkawiese. „Rozinka“ heißt Rosine auf Tschechisch, und diese „Rosinenwiese“ war der Ankerpunkt in den Werken über ihre Kindheit und Jugend. In „Rosinkawiese“ (1980) beschrieb sie alternatives Leben in den zwanziger Jahren, in „Fern von der Rosinkawiese“ (1989) ihre Flucht, und in „Geliebte Rosinkawiese“ (1990) eine Freundschaft über Grenzen hinweg. Dieses Werk wurde auch auf Tschechisch veröffentlicht: „Vzpomínám na Rozinkovou louku“ (2001), übersetzt von Vojtěch Terber.

Die Rosinkawiesen-Trilogie wurde 2004 in dem Band „Rosinkawiese – damals und heute“ zusammengefasst und als „Buch der Versöhnung“ herausgegeben. Davor erschien bereits die Veröffentlichung „Wie es den Leuten von der Rosinkawiese nach dem Krieg erging“ (1996). Zum besseren Verständnis erklärte Pausewang im Jahr 2005, dass diese Wiese „nichts mit Rosinen zu tun“ hatte. Gerade dies hatte ihr aber den Namen eingebracht, der „ironisch gemeint war und Geringschätzung ausdrücken sollte.“

Gudrun Pausewang in ihrer Jugend  | © Verlag impedimenta

Gudrun Pausewang wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, erinnerte sich aber immer an „ein geborgenes Dasein in und mit der Natur“, wie sie ihrem Biografen Uwe Jahnke erzählte. Ihre Kindheit war geprägt von Tieren, Wanderungen oder das Baden in einem nahen Teich. Die Familie ernährte sich vegetarisch, war „ökologisch“ ausgerichtet, im Winter schliefen die Kinder oft in ungeheizten Räumen. Während sie sich als eine Art von Elite empfand, blieb sie gleichzeitig „durch ihre ganz andere Lebensweise im Dorf isoliert“ und wurde wegen landwirtschaftlicher Experimente von anderen Bauern kritisch beargwöhnt, schreibt Jahnke.

Dies bekam die junge Gudrun schon in ihren ersten Schuljahren zu spüren, auch auf dem Gymnasium in Mährisch-Schönberg (Šumperk) fand sie kaum Freunde. Sie akzeptierte später als Fehler, die besondere Lebensform ihrer Familie als einzig richtige betrachtet und andere nicht akzeptiert zu haben. Entsetzt zeigte sie sich aber hernach darüber, dass ihr Vater „ein Nationalsozialist ohne Wenn und Aber“ wurde und der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei als Funktionär diente, bevor er 1943 im Krieg starb.

Sie geriet ebenfalls unter den Einfluss der NS-Ideologie und beschrieb eindringlich, wie sehr nationalsozialistisches Liedgut ihre Kindheit und Jugend bestimmten. „Ich, sieben Jahre alt, war tief beeindruckt von Hakenkreuz-Leuchtreklame, erlebte Fackelzüge, Begeisterung für Deutschland, Dank an Hitler“, gestand Pausewang. Von ihren Eltern bereits nationalsozialistisch erzogen, wurde sie im „Bund Deutscher Mädel“ weiter nachhaltig beeinflusst.

Als sie am 22. Mai 1945 mit Mutter und Geschwistern die „Rosinkawiese“ verlassen musste, brach für sie eine Welt zusammen. „Ich hatte ja mit glühendem Herzen an den Nationalsozialismus geglaubt“, sagte die Schriftstellerin später. Eine Welt ohne Hitler habe sie sich als 17-Jährige gar nicht mehr vorstellen können. Nun erlebte sie, wie Soldaten und Partisanen einmarschierten. „Abgesehen von einigen Vergewaltigungen und dem Verlust fast aller Uhren lief die Besetzung unseres Ortes durch die russische Armee weit glimpflicher ab als die durch die Tschechen“, erläuterte sie.

"Auf einem langen Weg" (1978) erzählt die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht zweier Kinder am Ende des Zweiten Weltkrieges.  | © Ravensburger Buchverlag

Ihre Flucht führte bis Hamburg, 800 Kilometer zu Fuß und unter schlimmen Umständen bis Oktober 1945, brachte aber auch „den von ihr ersehnten Weg aus der Enge des Elternhauses“, wie Jahnke anführt. Und sie war „durch die Flucht gereift“, so Gudrun Pausewang selbst. „Spätestens die Kristallnacht“ habe ihr verdeutlicht, wie mitleidlos Juden während der Nazizeit behandelt wurden. Durch die Nürnberger Prozesse hätten die meisten Deutschen von der systematischen Massenvernichtung erfahren. Diese und viele andere Informationen über Verbrechen ließen sie erkennen, „dass die Nazis unsere jugendliche Begeisterungsfähigkeit und Hingabebereitschaft skrupellos benutzt und missbraucht hatten“, wie in der Biografie nachzulesen ist.

Fortan spielte das Thema Frieden in ihrem Leben und Wirken eine entscheidende Rolle. Und sie empörte sich über Angehörige ihrer Generation, die weiterhin unehrlich gegenüber Enkeln und Urenkeln behaupteten, von all dem Bösen nichts gewusst zu haben. Schon in den siebziger Jahren interessierte sie sich zunehmend für politische Themen, für die Friedensbewegung und ökologische Fragen. Gudrun Pausewang griff in die Diskussion um die Stationierung von Atomwaffen Anfang der Achtziger ein und warnte in ihrem bekanntesten Buch „Die Wolke“ (1987) unter dem Eindruck des Super-GAU in Tschernobyl vor den Folgen einer weiteren Reaktorkatastrophe in einem deutschen Kernkraftwerk. Für ihren Biografen wurde es „eine Art Volksbuch“ gegen die Nutzung der Atomenergie und führte zu einem handfesten Skandal, als die hohe Politik die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 1988 an sie verhindern wollte.

Pausewang arbeitete nach dem Krieg als Lehrerin, lebte mehrere Jahre in Lateinamerika und schrieb ausführlich darüber. Nach dem Ende ihres Schuldienstes konzentrierte sie sich ganz auf die Schriftstellerei. Mehr als 100 Bücher hat sie veröffentlicht, bestätigt Doris Breitmoser, Geschäftsführerin des Arbeitskreises für Jugendliteratur, gegenüber der „Prager Zeitung“. Dafür bekam sie viele Preise, noch 2017 den Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Lebenswerk.

Gudrun Pausewang auf einer Kundgebung am AKW Grafenrheinfeld im Jahr 2013  | © WikiSysop

Immer wieder nutzte Gudrun Pausewang ihre Erfahrungen mit Nationalsozialismus, Krieg und Vertreibung aus Böhmen für eigene Bücher. Etwa „Auf einem langen Weg“ (1978) oder „Überleben!“ (2005), in denen es um Kriegswirren und Fluchtbewegung zum Ende des Kriegs ging. In „Reise im August“ (1992) schilderte sie Weg und Tod einer Zwölfjährigen in Auschwitz, in „Adi-Jugend eines Diktators“ (1997) mögliche Ursachen für den Nationalsozialismus, in „Du darfst nicht schreien“ (2000) die brutale Herrschaft der deutschen Besatzer im Sommer 1942 in der Tschechoslowakei, in „Ich war dabei“ (2004) Vorgänge aus der Nazi-Zeit, die sie teilweise selbst miterlebt hat.

Mehr denn je aktuell ist, was sie in „Der Schlund“ (1993) und „Die Verräterin“ (1995) niederschrieb. Darin warnte sie vor den Gefahren einer weiteren rechtsnationalen Diktatur, falls Deutschland erneut eine Wirtschaftskrise erlebt. Idealismus sei immer höher zu bewerten als Materialismus, nannte sie als einen Grundsatz ihres Lebens.

Besorgt blieb sie darüber, dass es in Deutschland noch immer oder schon wieder Menschen gebe, die aus der Nazi-Vergangenheit nichts gelernt hätten und offen zu Fremdenfeindlichkeit tendieren. „Nach Meinung der Autorin das Grundübel und Beschämende in der Mentalität vieler älterer Menschen“, schreibt Jahnke in seiner Biografie über Gudrun Pausewang. In „Die Meute“ (2006) griff sie dieses Bewusstsein auf.

Gudrun Pausewang vor einer nach ihr benannten Grundschule im hessischen Lauterbach (Ortsteil Maar), 2010  | © Gudrun-Pausewang-Schule

Zuweilen wurde ihr vorgeworfen, Kinder mit ihren Büchern zu verschrecken. Sie selbst sah darin Werke für junge Erwachsene, die sie schlimmstenfalls aufschrecken, in jedem Fall aber aufklären wollte und die bereits so viele historische Kenntnisse besitzen, um verstehen zu können, was sie ihnen zu lesen gab. Lehrer hätten ihr für die Bücher gedankt, weil damit das Wesen des Nationalsozialismus leichter zu erklären war.

Ein großes Anliegen blieb ihr, zwischen Deutschen und Tschechen zu vermitteln und damit auch „fundamentalistischen Heimatvertriebenen“ entgegenzuwirken. Sie strebte stets neue, bessere gutnachbarschaftliche Verhältnisse an – gerade auch zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. „Natürlich ist uns mit der Vertreibung großes Unrecht angetan worden“, sagte sie, „aber die Vertreibung war eine Reaktion auf Unrecht, das Deutsche den Tschechen angetan hatten“. Bald gebe es jedoch keine Zeitzeugen mehr wie sie, bemerkte Gudrun Pausewang vielfach. Daher habe sie geschrieben und nach Kräften dazu beitragen wollen, dass Ereignisse und Verbrechen nicht vergessen werden.