Vom Obstgarten der Sowjetunion zum Armenhaus Europas
Aus der Republik Moldau wandern so viele Arbeitsmigranten wie aus kaum einem anderen Land aus. Auch nach Tschechien
27. 11. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba
Wenn die Arbeit aufhört, fangen für Alexandra Caldare die Probleme an. Sobald sie nach zwölf Stunden Erntearbeit in dem kleinen Raum im mittelböhmischen Lysá nad Labem, den sie sich mit vier anderen Frauen aus der Republik Moldau teilt, zur Ruhe kommt, beginnt das Stechen in ihrem linken Knie. Wind und Sonne haben ein dichtes Netz dunkelvioletter Äderchen auf Caldares Wangen gezeichnet. Kräftige Lachfalten schmücken die Ränder ihrer tiefen Augenhöhlen, sämtliche Zähne der 59-Jährigen sind vergoldet. „Solange ich arbeite, spüre ich den Schmerz nicht“, sagt Caldare. Irgendwie war das schon immer so: Ihr Leben lang versucht sie ihre Not – und die ihrer Familie – mit Arbeit zu lindern.
Im Dorf Clişova, im Norden Moldaus, hat Caldare lange im Kindergarten gearbeitet, als Köchin, dann als Betreuerin. 1995 wurde ihr Kindergarten geschlossen. Wie in so vielen Dörfern des ärmsten Landes Europas gibt es auch in Clişova immer weniger Kinder. Die Bevölkerung schrumpft im Rekordtempo. Der Grund sind niedrige Geburtenraten und die massenhafte Arbeitsmigration. Fast jeder vierte Moldauer arbeitet bereits woanders, in Russland, der EU oder der Türkei. Männer arbeiten dort auf Baustellen, Frauen als Erntehelferinnen, Kindermädchen und Altenpflegerinnen. Viele von ihnen sind illegal in diesen Ländern. In der einstigen Sowjetrepublik gibt es für die meisten keine Perspektive – und vor allem: keine Arbeit.
Caldare ist früh verwitwet und seit sieben Jahren in Rente. Vom Staat bekommt sie 600 Leu im Monat. Das sind rund 33 Euro. Nachdem sie ihre Arbeit verloren hatte, versuchte sie auf dem Feld ein Zubrot für die Familie zu verdienen. Dann kam ihre schwerkranke Schwiegermutter ins Krankenhaus. „Mir war auf einmal klar, dass wir nicht einmal Geld für eine Beerdigung haben“, erinnert sich Caldare. Im Krankenhaus bot ihr eine Frau an, ein Visum und Arbeit in der EU zu beschaffen.
Wenige Wochen später fuhr sie auf einer lärmenden Erntemaschine durch die schwüle Augustluft Tschechiens und pickte die grünen und verschrumpelten Kartoffeln vom Fließband. Ihre Schwiegermutter starb kurz darauf. Caldare ließ sich ihren ersten Monatslohn im Voraus bezahlen und schickte ihn für die Beerdigung nach Moldau.
Das ist sechs Jahre her. Seitdem ist Caldare jedes Jahr für acht Monate in Tschechien. Mit den ersten Sonnenstrahlen steht sie auf dem Feld, wenn es dunkel wird, kehrt sie zurück in das Wohnheim, in dem rund 50 ihrer Landsleute untergebracht sind. Die Frauen arbeiten auf dem Großbauernhof im Akkord. Je mehr Salatköpfe, je mehr Staudensellerie sie ernten, desto höher ihr Lohn. Sie teilen sich die geernteten Kisten und Bunde untereinander auf, damit alle gleich viel verdienen. Ihre Mittagspause haben sie freiwillig von einer auf eine halbe Stunde verkürzt. Caldare kommt so im Monat auf rund 500 Euro. Früher arbeitete sie nach Sonnenuntergang noch als Putzfrau in den Büros des Landwirtschaftsbetriebs. Ihr Alter erlaube das heute nicht mehr.
Migrationsboom mit jähem Ende
Abends sitzt sie am Tisch mit der signalgrünen Tischdecke und löffelt Haferbrei mit Pflaumenkompott. Aus einem Nachbarzimmer tönt Technomusik. „Ich und meine Familie hatten eine Menge Schwierigkeiten“, sagt sie. Dann kommen ihr die Tränen. Beide ihre Kinder mussten an der Wirbelsäule operiert werden und können keine körperliche Arbeit verrichten. Ihr Enkelsohn hat einen angeborenen Gehfehler. Seine letzte Operation kostete knapp 1.500 Euro. Caldare ist entschlossen: „Solange ich kann, werde ich arbeiten und meine Familie unterstützen.“
Die Arbeit in Lysá nad Labem hat sie bekommen, als sich Tschechien zwei Jahre nach dem EU-Beitritt zum Einwanderungsland mauserte. Die Wirtschaft verzeichnete rapide Wachstumsraten. Massenweise wurden Gastarbeiter – vor allem aus Vietnam und Osteuropa – angeworben. Doch dann kam die Krise. Prag reagierte mit strikteren Einwanderungsgesetzen. Arbeitsgenehmigungen etwa müssen heute alle sechs Monate erneuert werden.
Den neuesten Statistiken zufolge leben etwa 7.500 Einwanderer aus der Republik Moldau in Tschechien. „Vergleicht man die Arbeitsbedingungen, dann haben es die Moldauer hier am schwersten“, sagt Yana Leontiyeva vom Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Moldauer beziehen in Tschechien die niedrigsten Löhne, sie kommen oft ohne ihre Partner und Kinder, sie schicken am wenigsten Geld zurück in die Heimat.
Alexandra Caldare packt das, was von ihrem Lohn übrig bleibt, einmal im Monat in ein Paket, zusammen mit Waschmitteln, Spaghetti und Wurstwaren. Ein Minibus fährt wöchentlich zwischen dem Großbauernhof und den Dörfern der Migranten hin und her. In den Paketen ihrer Tochter findet Caldare hausgemachten Käse oder Eier aus dem Hühnerstall der Familie. Geld sparen sie dadurch nicht, die Pakete sind eine der wenigen Verbindungen über die Ferne. Neben Skype.
Alltag online
Caldare gestikuliert fröhlich neben dem Bett ihrer Mitbewohnerin. Einmal in der Woche leiht sie sich ihren Laptop, stellt ihn auf ein Schränkchen aus Sperrholz und stellt Fragen: Wie geht es dem Enkelsohn? Wie geht die Ernte voran? Alltag. Nur mit blechernen Stimmen und verschwommenen Gesichtern. „Was habt ihr für meine Rückkehr vorbereitet?“, fragt Caldare verschmitzt.
In Clişova zählen sie die Tage und Stunden, bis Alexandra Caldare zurückkehrt. „Ich glaube ihr Leben in Tschechien ist sehr hart“, sagt Viorica Popa wenige Wochen vor der Rückkehr ihrer Mutter. Ihr Gesicht bietet das selbe Farbenspiel wie das ihrer Mutter. Nur die Zähne der 32-Jährigen sind weiß geblieben. „Früher gab es hier eine Schule, ein Kulturhaus, Tanz- und Singvereine. Die Leute haben noch andere Dinge gemacht als nur zu arbeiten“, erinnert sich Popa an das Dorfleben in ihrer Kindheit.
Clişova liegt am Fuße eines Hügels. Bis in die sechziger Jahre lebten die Menschen hier unter anderem vom Fischfang. Dann fiel im Kreml der Beschluss, dass der See wegkommt. Tiefe Gräben wurden gegraben, damit das Wasser schnurstracks das Tal hinunter fließt. Heute weiden Pferde im Tal des Flusses Răut, im Herbst wirken die Felder wie eine karge Steppenlandschaft. Hölzerne Brunnen ragen wie Galgen aus dem ockerfarbenen Gestrüpp, Steine halten die Seile gespannt, an denen Wasserkübel baumeln. 1985 dann machte ein Erdrutsch die Hälfte des Dorfes dem Erdboden gleich. Der Wald, der die Gesteinsmassen hätte oberhalb des Ortsrandes aufhalten können, ist in den 1930ern gerodet worden. Auch das Haus von Alexandra Caldare wurde vom Geröll zerdrückt, das sich langsam den Hang hinunter schob. Die Familie bekam ein Haus auf der anderen Flussseite zugeteilt, wie so viele kehrten sie jedoch später auf ihr Grundstück zurück. Sie bauten ein Haus mit grauen, unverputzten Wänden und verzierten es mit blauem Fries unterhalb der Regenrinne.
Hoffnungsschimmer Vilnius
Moldau war schon immer ein Spielball höherer Mächte. Mal ein Teil Großrumäniens, mal unabhängig, dann Sowjetrepublik. In der UdSSR ging es dem kleinen Land vergleichsweise gut, es wurde „Obstgarten der Sowjetunion“ genannt. Die Unabhängigkeit 1991 schnitt die Agrarwirtschaft von ihren traditionellen Absatzmärkten ab – und von den großen Industriekomplexen jenseits des Dnister-Flusses. Das abtrünnige Transnistrien, ein wenige Kilometer breiter Landstrich am westlichen Ufer des Dnister, steht unter Protektion Russlands. Die schwer kontrollierbare Grenze und Sanktionen auf Weinimporte aus Moldau sind Russlands größte Druckmittel gegen eine weitere Annäherung des Landes an die benachbarte Europäische Union. Ob es trotz allem dazu kommen wird, entscheidet sich an diesem Wochenende.
Im litauischen Vilnius findet dann das Gipfeltreffen Östliche Partnerschaft statt. Dort sollten eigentlich Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und sechs osteuropäischen Staaten unterzeichnet werden. Auf Druck Russlands hat die Ukraine am Donnerstag vergangener Woche die Verhandlungen mit Brüssel vorerst gestoppt. Auch das Abkommen mit der Republik Moldau steht auf wackeligen Beinen.
Das Abkommen würde den Moldauern visumfreies Reisen in die EU garantieren und das kleine Land in eine Freihandelszone mit der Union führen. Die pro-europäische Regierung verspricht sich davon einen entscheidenden Impuls für die kränkelnde Wirtschaft. Der wiederum soll den Exodus aus Moldau drosseln.
Popa führt in ein kleines Haus, das gerade auf ihrem Grundstück über dem Răut-Tal entsteht. Innen riecht es nach frischem Lehm. Vioricas Ehemann Valery möchte es fertig bauen, damit seine Schwiegermutter dort nach der Rückkehr einziehen kann. Auch Valery Popa arbeitet im Ausland. Im Winter, wenn es auf dem Feld in Clişova nichts zu tun gibt, schuftet er auf Baustellen in Moskau.
Wirtschaftsmotor Migration?
In Moldau ist Alexandra Caldares Familie keine Besonderheit. Auf dem Land ist fast jede Familie vom Lohn eines oder mehrerer Migranten abhängig. Zählt man das Geld, das sie aus dem Ausland nach Moldau schicken, zusammen, dann kommt man auf eine Summe, die höher ist als der gesamte Staatshaushalt. Vielen Familien sichert das das Überleben, der moldauischen Wirtschaft hilft es bislang nicht auf die Beine. Nur etwa sechs Prozent der Gelder werden produktiv investiert, in Betriebe und somit in neue Arbeitsplätze. Der Großteil wird für das Nötigste verbraucht.
So wie die 500 Euro, die Alexandra Caldare in Tschechien verdient. Im nächsten Jahr möchte sie keine Arbeitsgenehmigung mehr beantragen. Sie möchte ihr Knie schonen und für ihre Familie da sein. Ob sie dann genügend Geld haben werden, weiß Caldare noch nicht. Dann steht sie wieder ohne Arbeit da – und vor neuen Problemen.
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