Vom Ufo zurück zur Baude
Nachhaltiger Tourismus gewinnt im Riesengebirge langsam an Bedeutung. Ein Besuch im Blaugrund, zwischen den Ausläufern der Schneekoppe
13. 2. 2013 - Text: Felix AckermannText: Felix Ackermann; Foto: Matěj Spurný
Auf dem höchsten Berg des Riesengebirges, der Schneekoppe, ist eine fliegende Untertasse gelandet. Direkt an der polnisch-tschechischen Grenze wurde 1974 die futuristische Baude in Tellerform errichtet, in die jährlich tausende Skifahrer und Wanderer strömen. Unten in Pec pod Sněžkou, am Fuße des Berges, steht neben Skiverleihen, Restaurants und pastellfarbenen Apartmenthäusern der alte, neue Gegenentwurf zur Ufo-Baude – ein schlichtes, modernes Holzhaus. Es beherbergt den Verlag „Der lustige Ausflug“, eine Galerie und einen Kunstgewerbehandel.
Besitzer Pavel Klimeš ist stolz auf den Bau: „Er wurde ganz ohne Nägel gebaut, allein aus Materialien aus der Region und in traditioneller Handwerksarbeit“. Der Landschaftsökologe hat vor über dreißig Jahren beschlossen, sein Leben dem Riesengebirge zu widmen. „Wir müssen das reparieren, was in den Sudeten in den vergangenen Jahrzehnten durch Missachtung und Raubbau an der Natur zerstört wurde“, erklärt Klimeš zwischen zwei Telefonaten. Er gibt ein dreisprachiges Journal über den südöstlichen Teil der Krkonoše-Berge, wie das Gebirge in Anlehnung an den tschechischen Namen des Waldgeistes Rübezahl heißt, heraus. Der Legende nach handelt es sich um jenen Riesen, der die Schneekoppe und all die anderen Gipfel „auf seinen Schultern“ trägt.
Klimes repariert zusammen mit seinem Team alte Wanderwege, restauriert verfallende Kapellen und errichtet neue Museen. „Die Touristen sind nicht unsere natürlichen Feinde, im Gegenteil, wir leben von ihnen“, erklärt er seine Idee. „Wir wollen nur, dass sich im Riesengebirge ein nachhaltiger Umgang mit der Natur und dem Kulturerbe etabliert.“ Dabei gebe es immer mehr Menschen, die Wert auf eine sanfte Form des Tourismus legen. So wie eine große Zahl der deutschen Gäste aus Berlin anreist, kommen die meisten Tschechen aus der Hauptstadt Prag. Klimeš klingt zuversichtlich: „Es werden doch mehr, die die Landschaft nicht allein als Hintergrundbild für einen kurzen Kick sehen. Und wir haben auch einige gute Unterkünfte. Fahren Sie doch zu den Spurnýs in den Blaugrund!“
Auf der Sonnenseite
Ein weißhaariger Mann holt mit einem Schneemobil das Gepäck der Gäste am Hauptparkplatz von Pec ab. Begleitet von einem großen Malamut-Hund sieht Hynek Spurný selbst aus wie ein entfernter Verwandter von Rübezahl. Er ist ein stiller Zeitgenosse, dessen feines Lächeln die Falten in Bewegung bringt, die das Leben in den Bergen gezeichnet hat. Nur Gäste mit Kindern werden mit dem Schneemobil befördert. Während Spurný im Wald verschwindet, beginnt für alle anderen eine drei Kilometer lange Wanderung zwischen Brunn- und Rosenberg. Als in Modrý důl noch die meisten Bewohner Deutsch sprachen, hieß das Tal Blaugrund. Weil es hier im Sommer Teppiche von Heidelbeeren geben soll. Der Erbauer der heute von den Spurnýs betriebenen Baude warb vor 75 Jahren in einem Faltblatt: „Wer abseits jeden Verkehrs und unbehelligt von den Begleiterscheinungen neuzeitlicher Touristik, wie sie durch Autos und Motorräder gegeben sind, seine Freizeit in friedvollem, beschaulichem Naturgenuß verbringen will, dem bietet der Blaugrund ideale Vorraussetzungen für Erholung und Ruhe.“
Angekommen an einem Holzbau aus dem späten 19. Jahrhundert begrüßt Hyneks Frau Jana die Gäste mit einem Lächeln. Sie erklärt auf Englisch, dass der Name der Baude „Auf der Sonnenseite“ bedeute. „Selbst wenn über Pec Wolken liegen, scheint bei uns die Sonne – an guten Tagen kann man die Schneekoppe von der Wiese wie auf dem Präsentierteller sehen“, sagt sie. „Nach einer knappen Stunde Aufstieg ist man direkt auf dem Kamm des Riesengebirges und kann von hier aus Langlauftouren unternehmen oder auch anspruchsvollere Abfahrtsstrecken finden“, weist sie die Neuankömmlinge ein.
Berliner Studenten fragen am ersten Abend, ob man über den Kamm auch auf die polnische Seite nach Karpacz (Krummhübel) gelangen könne. Erfahrenere Skifahrer, die jedes Jahr hierher kommen, raten von dieser Tour für den Anfang genauso ab wie von der Besteigung der Schneekoppe mit Ski. „Zu viel Eis liegt auf dem Weg und der Wind bläst selbst an schönen Tagen unwirtlich“, sagt der Prager Martin Valchář, der seit 25 Jahren in den Blaugrund kommt. Stattdessen empfiehlt er den jüngeren Gästen eine passende Tour zu den nahen Richterbauden für den Beginn. Für Snowboard- und Abfahrtski-Anfänger und Kinder gibt es auf der Wiese vor dem Nachbarhaus einen kleinen Lift.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Die Küche im Erdgeschoss dient gleichzeitig als Wohnzimmer der Familie und als Rezeption. Der Hund wacht müde über den großen Flur. In der Gaststube schlägt der Regulator immer fünf Minuten zu spät. Zum Essen ruft der vierjährige Enkel mit einer Glocke. In der Hauptsaison zwischen Weihnachten und Neujahr hilft Spurnýs Sohn Matěj zusammen mit seiner in Dresden aufgewachsenen Frau Susanne mit. Gemeinsam mit ihren Eltern bedienen sie die Übernachtungsgäste sowie die Besucher des Imbisses im Vorderteil der Baude, putzen, kochen. Zwischendurch sitzen sie zusammen am Küchentisch und erzählen fröhlich vom Tagwerk.
Matěj, der in Prag als Historiker arbeitet, ist stolz auf sein zweites Zuhause in den Bergen: „Meine Eltern haben hier eine Baude im eigentlichen Sinne. Deshalb sind wir froh, dass zu uns Menschen kommen, die unsere Philosophie verstehen.“ Die Herberge ist nicht nur in einem übertragenen Sinne ursprünglich: Den Wanderer erwarten im Winter wie im Sommer im Obergeschoss sechs einfache, hellhörige Zimmer. Die Düfte der böhmischen Küche verbreiten sich im ganzen Haus. Bei großen Gruppen werden unter dem Dach weitere sechs Betten aufgestellt. Im Erdgeschoss gibt es je ein Bad für Männer und Frauen.
„Meinen Eltern ist daran gelegen, wo und wie sie leben“, sagt Matěj. Das war lange anders. Mit der Vertreibung und Aussiedlung der sudetendeutschen Bewohner, deren Vorfahren hier Jahrhunderte gelebt hatten, wurde der Region ein Stück Seele entrissen. Die neuen Siedler kamen aus unterschiedlichen Teilen der Tschechoslowakei. Das Regime nutzte die Gelegenheit, bestehende Bande zu zerschlagen, politisch unliebsame Leute schickte man ebenso ins „Grenzland“ wie Karrieristen. Viele blieben nicht lange, neue kamen. Eine regionale Identität konnte sich unter diesen Bedingungen bis heute nur schwer entfalten. Matěj Spurnýs Vater prahlt nicht mit den Projekten, die er den wirtschaftlich schwierigen neunziger Jahren abgerungen hat. Nachdem er und seine Frau die Baude 1991 von einem staatlichen Betrieb gekauft haben, bei dem sie zuvor angestellt waren, begann Hynek mit der Restaurierung des Gebäudes.
Er ließ das Dach mit Holzschindeln decken und sanierte den Holzbau nach und nach in mühsamer Handarbeit. Und er erschloss eine historische Wasserleitung aus Holz, die frisches Quellwasser aus 1.350 Metern Höhe in den Blaugrund leitet. Nach dem Austausch der Rohre und der Erneuerung von zwei Filterstufen aus Kieselstein landet das Wasser wieder zu jeder Jahreszeit direkt in den Häusern im Tal. Geheizt wird bei Spurnýs mit Holz aus den umliegenden Wäldern. „Wir sind fast die einzigen, die sich die Mühe machen, die toten Bäume aus den niedriger gelegenen Wäldern einzusammeln und zu Brennholz zu verarbeiten. Sinn hat das nur durch die Installation eines modernen Nachtspeicherofens“, erklärt Hynek mit einem Lächeln auf den Lippen. Doch wer ihn, Hynek Spurný, für einen Phantasten hält, irrt: Er hat durchgesetzt, dass der Blaugrund nicht nur durch die Auflagen des Nationalparks geschützt ist, sondern als Architekturensemble auch unter Denkmalschutz gestellt wurde. Er selbst ist nun befugt, die umgebenden Bauden bei baulichen Veränderungen zu kontrollieren, und hilft, Fördergelder für einen denkmalgerechten Ausbau zu bekommen.
Was bedeutet schon Ökologie?
Fast machtlos fühlt sich Spurný hingegen den ökologischen Veränderungen ausgeliefert, die mit dem Massentourismus in der Region einhergehen. „Die Touristen fahren im Sommer verbotenerweise mit ihren Autos in den Blaugrund, Mountainbikefahrer rollen über Wiesen mit der höchsten Artendichte in ganz Tschechien und viele der Baudenbetreiber achten selbst nicht auf ein Minimum an Umweltschutzstandards“, schimpft er. Das Riesengebirge sei eine wunderbare Kulturlandschaft, die von der Kommerzialisierung des Tourismus ebenso bedroht sei wie von den postsozialistischen Marotten seiner Bewohner. Doch beim Versuch, selbst Nachhaltigkeit zum Teil des Angebots zu machen, stoßen auch die Spurnýs an anscheinend natürliche Grenzen.
„Wir würden gerne im Sommer einen Biomonat oder Vollwertkost anbieten – es gibt sowohl in Prag als auch in Berlin genug interessierte junge Familien“, sagt Susanne Spurná, „aber das Angebot an Biogemüse in der Region ist einfach zu gering.“ In den Bergen gibt es wenige landwirtschaftliche Nutzflächen und in Ostböhmen sind die Strukturen noch sehr von den Nachwehen der sozialistischen Planwirtschaft beeinflusst. Immerhin bietet Familie Spurný einmal am Tag ein Gericht mit ökologisch unbedenklichen Heidelbeeren aus dem Riesengebirge an: angefangen von der Marmelade zum Frühstück, über Quarkknödel mit Heidelbeerfüllung zum Mittag, Kuchen zum Vesper bis hin zum hausgemachten Eis mit Heidelbeeren zum späten Abend. Hynek Spurný sammelt im Spätsommer in wochenlanger Arbeit jährlich fast 500 Kilo.
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