Vom weißen Ostseestrand ins kohlenschwarze Karviná
Auf der Suche nach Arbeit ziehen Menschen in der EU oft von Ost nach West. Familie Wendel hat den umgekehrten Schritt gewagt
18. 4. 2013 - Text: Christian RühmkorfText und Foto: Christian Rühmkorf
Die Maschine mit dem überdimensionalen Scmensionalen Schneebesen und dem großen Stahlkessel heult auf. Thomas Wendel lächelt als wäre er stolz auf den Lärm. „Unsere Anschlaachmaschinen“, sagt er, „sind schon einigermaßen betaacht, aber alles Metall, kein Plastiiik, alles noch tschechische Wertarbeit.“ Seine Herkunft von der Waterkant kann der schleswig-holsteinische Konditor nicht leugnen.
„Zastav to“ – schalte den Lärm ab, ruft eine Kollegin lachend. Thomas Wendel drückt auf den roten Knopf. Mit dem Tschechischen klappe es immer besser. Aber was er vermisse, das sei echtes Lübecker Marzipan. Mit diesem Milchmarzipan, das hier in Tschechien hergestellt werde, könne er sich nicht anfreunden. „Das ist eine feste Masse, die man ab und zu mal in die Mikrowelle schieben muss, damit man sie überhaupt bearbeiten kann.“ Ein Überbleibsel der sozialistischen Mangelwirtschaft.
Der große, freundlich dreinblickende Mittvierziger aus dem Dorf Schashagen an der Ostsee arbeitet seit fünf Jahren in der Konditorei im oberschlesischen Kohlerevier Karviná. Seine Frau Barbara stammt ursprünglich aus diesem östlichsten Winkel Tschechiens. Eine Brieffreundschaft Anfang der 1990er Jahre und dann ihre Zeit als Au-Pair in Hamburg 1996 hatten die beiden zusammengebracht. Eines war klar: Das Paar würde in Deutschland leben. Denn Karviná ist eine langsam sterbende Stadt. Hohe Arbeitslosigkeit, viel Kriminalität, höchste Smogbelastung. Wer hier bleibt, ist selber schuld, wer hierhin zieht, dem ist nicht mehr zu helfen, denken die Jüngeren.
Schwarze Sheriffs statt Kinder
Aber gerade hier hat das Ehepaar Wendel 2007 mit seiner damals sieben Jahre alten Tochter noch mal ganz von vorne angefangen. Der Grund: Thomas Wendel hat in Havířov bei Karviná Arbeit gefunden, und Arbeit war das, was er damals im Ostseeheilbad Dahme verloren hatte. Nach über 13 Jahren in den Diensten einer traditionsreichen Konditorei. Mit dem neuen Chef kam auch der Ruin, der Laden war in eineinhalb Jahren abgewirtschaftet, erzählt Wendel. „Bitter war das. Und dann eben die Frage: Was machen wir jetzt?“
„Ich hätte nie gedacht, dass Thomas mit der Idee kommt – dass er das ernst meint“, sagt Barbara Wendel, so, als würde sie sich noch heute darüber wundern. Wer zieht schon von Norddeutschland nach Oberschlesien, um Arbeit zu finden? „Man sieht hier die Zukunft eher schwarz“, erzählt die 39-Jährige, während sie durch ihr Plattenbauviertel läuft. „So wie die Kohle – eben schwarz“, schiebt sie hinterher.
88 Prozent der Einwohner Karvinás leben in der Platte, so viel wie in keiner anderen Stadt Tschechiens. Kohle sorgt hier für die wenigen Arbeitsplätze, und Kohle sorgt hier zugleich für Angst. Denn bald soll dort gefördert werden, wo heute auch die Wendels leben: diesseits des Flusses Olše. Das war immer ein Tabu. Aber Versprechungen und Beschlüsse rund um den Kohleabbau sind in Karviná nur von kurzer Haltbarkeit.
Die Stadt ist zersiedelt, Kohleschächte haben mit den Jahrzehnten große Teile der Stadt verschluckt. Aber vieles von dem, was noch steht, steht leer. „Hier in diesem Gebäude war früher meine Grundschule“. Barbara Wendel zeigt auf einen grauen Plattenbau. Damals gab es noch fünf erste Klassen mit jeweils 30 Schülern. Überall waren Kinder. Heute gehen dort nur noch künftige „Schwarze Sheriffs“ ein und aus. Eine Security-Firma bildet dort ihre Angestellten aus. Statt Mathe, Geschichte oder Tschechisch unterrichtet man Personen- und Objektschutz.
Norddeutsche Widerworte
2007 zogen die Wendels dennoch nach Karviná. Über Bekannte organisierte Frau Wendel eine Konditorstelle für ihren Mann. Mit Händen, Füßen, Stift und Papier verständigt sich Thomas Wendel am neuen Arbeitsplatz. Was er nicht schafft, ist die Anpassung an eine andere Mentalität und Arbeitsauffassung. Wer schon in der Probezeit anfängt, Veränderungen in der Firma vorzuschlagen, dem drohe als deutscher Besserwessi gefeuert zu werden.
„Es ist hier alles sehr, wie soll man sagen, altsozialistisch“, formuliert das Thomas Wendel. In der Konditorei habe keiner den Mund aufmachen wollen, wenn etwas nicht passte; man habe alles in sich hineingefressen und das sei nicht so seine Art.
Geringer Lohn, schlechtes Arbeitsklima, ineffektive Planung des Dreischichtbetriebs. Wenn es schlecht kam, hieß das: abends um 21 Uhr ausfegen und morgens um fünf wieder Teig anrühren. Und dann das Zwischenmenschliche. „Unsere Betriebsleiterin hat permanent Druck ausgeübt, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab.“ Norddeutsch-direkt suchte Thomas Wendel also das Gespräch und prallte ab. Widerworte hatte es hier noch nicht gegeben. Er ließ nicht locker, wendete sich per Brief an den Direktor. „Weil ich denen das auch nicht beipulen konnte, dass man Veränderungen erreichen kann, wenn man den Mund aufmacht.“ Die Erinnerung an die erste Zeit in Karviná liegt Thomas Wendel immer noch schwer im Magen. Und beinahe hätte er die Segel gestrichen.
Auch für Barbara Wendel war das nicht leicht. Sie kannte ihr Land ja, wusste um die Besonderheiten und Eigenheiten, wusste wie sehr ihr Mann seine neue Arbeitsstelle und den ganzen Neuanfang aufs Spiel setzte. „Ich fand meinen Mann sehr mutig“, sagt sie dennoch im Rückblick. Sie habe einfach nur gehofft, das alles gut werde. Und es wurde gut, der Konditor hat Glück gehabt. Der Direktor ist auf den Zug aufgesprungen und Schritt für Schritt wurde gemeinsam an Verbesserungen im Betrieb gearbeitet. „Aber der Druck von meinen Kolleginnen“, sagt Thomas Wendel, „war damals enorm groß.“
Heimat ist woanders
Heute ist Thomas Wendel unbefristet angestellt, seit vier Jahren schon. Die Familie hat sich eingelebt. „Seit wir nach Tschechien umgezogen sind“, erzählt Barbara Wendel lachend, „sprechen wir in der Familie so einen Mischmasch. Ich rede mit Julia immer öfter Tschechisch.“ Für Vater Wendel ist es nicht immer ganz leicht da Schritt zu halten, wenn Mutter und Tochter loslegen. Damals, als Julia von heute auf morgen von einem deutschen Kindergarten auf eine tschechische Schulbank rutschen musste, konnte sie kein Wort Tschechisch. Heute gehört sie in der Schule zu den Besten.
Aber Heimat, das ist für Julia nach wie vor Norddeutschland. Und zwar nicht nur, weil in Karviná, wie sie sagt, so viel Müll auf den Straßen liegt, es so wenig Spielplätze gibt oder weil die Leute in Deutschland ganz einfach „ein bisschen netter“ sind. „Hier unter dem Haus ist Kohle“, sagt Julia. Ihr Opa, der wisse, wo überall Kohle sei und dass eben unter ihrem Haus auch Kohle sei. „Und man weiß nie, wie lange das noch dauert.“
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