Von Kriegern nach Kryry

Von Kriegern nach Kryry

Im Sudetenland hatte man lange Zeit Angst vor der Rückkehr der Deutschen. Doch mancherorts sind Vertriebene längst zu Freunden geworden – und zu gern gesehenen Gästen

13. 7. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: J. Füllenbach und Schidd/CC BY-SA 4.0

Mit „pán profesor“ reden Harald Richter alle im nordwestböhmischen Kryry an, vom Bürgermeister über die Schuldirektorin bis zu den Kindern. Der „Herr Professor“, ein Honorarprofessor aus dem Rheinland, ist mit seinen 79 Jahren längst pensioniert, aber so wach und rege wie manch anderer schon in seinen letzten Berufsjahren nicht mehr. Und er stellt sich den Fragen, die die Abschlussklasse der Grundschule von Kryry an ihn richtet.

„Was haben Sie damals empfunden, als Sie mit Ihrer Familie von den Tschechen vertrieben wurden?“, wollen die 14- bis 15-Jährigen wissen. „Was sind Ihre liebsten Erinnerungen an Kryry?“ – „Wie war das, als Sie in Deutschland ankamen? Was für eine Wohnung fanden Sie dort?“ – „Würden Sie gerne wieder zurückkommen?“

Harald Richter war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs selbst noch zwei Jahre in Kryry zur Schule gegangen, einer Kleinstadt im Saazer Land, die damals Kriegern hieß und zu über 90 Prozent von Deutschen besiedelt war. Dort wurde Richter 1937 in die Familie des Stadtsekretärs geboren. Seit Oktober 1938 gehörte Kriegern zum Sudetengau.

Nach dem Krieg sah die große Mehrheit der Tschechen keine Möglichkeit mehr, mit den Deutschen zusammenzuleben. Auch der kleine Harald musste mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester die Heimat verlassen, im Gepäck gerade mal so viel, wie sie auf dem beschwerlichen Weg tragen konnten. Über Sachsen, wo unerwartet und zur großen Freude der Familie der Vater zu ihnen stieß, gelangten sie einige Monate später nach Heidelberg und ließen sich für die ersten zwei Jahre in einer winzigen Wohnung nieder.

Jahre harter Arbeit
Mehr als 55 Jahre später nahm sich Harald Richter vor, das zu machen, wovor sich die meisten Tschechen jahrzehntelang gefürchtet hatten: in seinen Geburtsort zurückzukehren. Aber er tat dies auf eine Weise, die in Kryry anfängliche Besorgnisse und unterschwellige Ängste bald zerstreute und inzwischen herzliches Einvernehmen, ja enge Freundschaft hervorgebracht hat. Man kann sagen, er hat sich den Weg zurück nach Kryry in Jahren harter Arbeit mühsam errungen.

Das Ergebnis der ersten Phase dieser Arbeit war die knapp 300 Seiten starke Fallstudie „Der Trümmerhaufen. Tschechisch-deutsche Geschichte in der böhmischen Provinz“, die 2007 erschien. Es ist die Geschichte einer kleinen, im Grunde unbedeutenden Stadt in den Fallstricken des wechselvollen Zusammenlebens zwischen Deutschen und Tschechen, das seit dem Emporkommen des Nationalismus immer komplizierter wurde und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein tragisches Ende fand.

Ein Nebenprodukt der Arbeit an dem Buch, freilich nicht weniger wichtig, war der Prozess der Vertrauensbildung, den die vielen Aufenthalte Richters in Kryry und Umgebung bewirkten. Er reiste mehrmals an, um Archivmaterial zu sichten und andere Quellen aufzuspüren. Als er dann die wichtigsten Ergebnisse des Buchs in Kryry vortragen konnte, war das Fundament für eine dauerhafte Verbindung gelegt.

Blick von der Schillerwarte auf Kryry

Wie jedes Jahr seit 2010 kam Harald Richter auch vor zwei Wochen mit seiner Frau nach Kryry in die Grundschule. Direk­torin Hana Lehnerová und Bürgermeister Miroslav Brda begrüßten die beiden schon am Eingang überschwänglich wie alte Freunde, die sie lange nicht gesehen haben.

Dass die Wiedersehensfreude von Herzen kam, davon zeugten bald die lebhaften Gespräche im Zimmer der Direktorin. Man fragte und erzählte, wie es den Kindern und Enkeln gehe, was es Neues in Kryry und in Neuseeland gebe, wo eine von Richters Töchtern sich mit der Familie niedergelassen hat, und wie es den gemeinsamen Bekannten zwischenzeitlich ergangen sei. Ein Gespräch, wie es überall geführt wird zwischen Menschen, die sich nahe sind und miteinander Freuden und Sorgen teilen.

Verlust und Neuanfang
Anschließend hörten etwa 40 Schüler Richter aufmerksam zu. Er berichtete von seiner Kindheit in Kriegern, von seiner Schulzeit in eben diesem Schulgebäude, von der Vertreibung und vom Neuanfang in Deutschland. Bei der spontanen Diskussion fiel auf, wie oft die Jugendlichen nach den Gefühlen fragten, die Richter bewegten, als er Verlust und Neuanfang erlebte. Und er verstand es, die Schüler mit seinen lebensnahen, glaubwürdigen Antworten zu fesseln.

Richter begibt sich aber nicht nur in Kryry auf die Suche nach der Vergangenheit. 2012 unternahm er mit der damaligen Abschlussklasse, Lehrern und Bürgermeister einen Ausflug nach Franken, um dort mit der deutsch-tschechischen Geschich­te verbundene Orte zu besuchen. Sie besichtigten die Heimatstube des Landkreises Podersam (Podbořany), zu dem Kriegern zählte. Danach machte sich sogar eine Gruppe von Bürgermeistern aus der Gegend um Kryry nach Kronach auf.

Uta Bräuer, die Betreuerin der Heimatstube, die mit Richter zum Treffen in Kryry gekommen war, berichtete, dass inzwischen mehr Tschechen als Deutsche die Heimatstube aufsuchten. Die heutigen Bewohner von Kryry und Umgebung sind nach 1945 zugezogen, oft von weit her, zum Beispiel aus Wolhynien; ihr Bedürfnis, die Geschichte ihrer neuen Heimat kennenzulernen, werde immer stärker. Harald Richter hat mit seinen Initiativen dafür den Weg geebnet. Mittlerweile hat auch Kryry eine Heimatstube, durch die Bürgermeister Brda voller Stolz führte. Eingerichtet hat er sie jüngst in der Stadtbibliothek. Gestützt auf Fotografien und Dokumente aus Kronach, spart sie auch die Vergangenheit nicht aus.

 


Dazu das Interview mit Harald Richter: „Auf keinen Nenner zu bringen