Von zwei Kaisern und einer Kaiserin
Vor 1200 Jahren starb Karl der Große. Auch in Prag kann man den Spuren des bedeutenden Herrschers nachgehen
29. 1. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Bild: APZ
„Karl der Große und Prag? Der ist doch nie bis zur Moldau vorgedrungen! Und außerdem war Prag zu seiner Zeit noch nicht gegründet.“ So wird mancher ungläubig den Kopf schütteln. Mit Recht. Karl war nie an der Moldau. Seinen Sohn hieß er im Jahre 806 einen Feldzug gegen die „Behaimi“ zu führen, kam selbst jedoch äußerstenfalls einmal bis in die Gegend von Cheb (Eger). Und doch gibt es in Prag eine Kirche, die Mariä Himmelfahrt und Karl dem Großen geweiht ist. Sie befindet sich am äußersten Rand der Prager Neustadt, am Ende der Straße Ke Karlovu (Zum Karlshof), hoch über dem Tal von Nusle. Reisenden, die mit dem Auto aus Richtung Brünn kommend über die Nusle-Brücke ins Prager Zentrum fahren, fällt linker Hand die Kirche mit dem ehemaligen Kloster direkt ins Auge. Mit ihren Kuppeln und Zwiebeltürmchen gemahnt sie von ferne eher an ein russisch-orthodoxes Gotteshaus. Dass sie ein gotischer Sakralbau aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist, davon wird sich erst überzeugen, wer sich die Mühe macht, in diesen abgelegenen Winkel der Neustadt zu wandern.
Auf die Spuren Karls IV. treffen wir in Prag auf Schritt und Tritt. Die Kirche auf dem Karlov (Karlshof) ist eine solche Spur. Zwar nicht so mächtig wie der Veitsdom, nicht so ausgreifend wie der Karlsplatz und ohne den Rummel von Karlsgasse und Karlsbrücke. Es geht beschaulich zu im Schatten dieser Kirche. Tritt man durch das schmiedeeiserne Tor in den kleinen schlichten Park, der das Gotteshaus umgibt, steht man bald vor einer Statue Karls IV. aus dem 19. Jahrhundert. Sie weist auf den Stifter von Kirche und ehemaligem Kloster hin. Dass er die Kirche außer der Jungfrau Maria auch Karl dem Großen widmete, war kein Zufall, sondern Programm.
Karl IV., mit Taufnamen Wenzel (Václav), verehrte seinen großen Vorgänger von Kindesbeinen an. Im Alter von sieben Jahren gab ihn sein Vater Johann von Luxemburg zur Erziehung an den Hof des französischen Königs Karls des Schönen, Johanns Schwager. Erst in Paris nahm der junge Václav anlässlich seiner Firmung den Namen Karl an, den er bis zu seinem Lebensende behielt. Als Erwachsener legte Karl IV. großen Wert darauf, in Aachen – seit Karl dem Großen traditionelle Krönungsstadt – erneut zum römischen König gekrönt zu werden, denn seine erste Krönung, 1346 in Bonn bloß als Gegenkönig gegen Ludwig den Bayern und nicht am richtigen Ort, galt nicht als vollwertig. Für die Krönung drei Jahre später in Aachen hatte er in Prag ein kostbares Diadem anfertigen lassen, das er nach seiner Krönung einer als Reliquiar gestalteten Büste Karls des Großen aufsetzte. Ob auch die aus getriebenem Silber und teils aus Gold bestehende Büste eine Stiftung Karls IV. ist, gilt als unsicher. Noch heute wird dieses Büstenreliquiar mit dem Diadem im Aachener Domschatz aufbewahrt.
Die Pfalzkapelle muss ihn sehr beeindruckt haben. Denn nicht lange nach seiner Krönung, schon 1350, fand im Beisein Karls IV. die Grundsteinlegung zu der gotischen Kirche auf dem Karlov statt. Betrachtet man ihren Grundriss, so fällt sogleich die Ähnlichkeit mit der Aachener Pfalzkapelle auf: Beide haben ein Oktogon als zentrales Element. Für einen gotischen Bau in Prag war das achteckige Hauptschiff damals allerdings ein Novum und eine große Herausforderung für die Baumeister. Vermutlich war dies einer der Hauptgründe für die lange Bauzeit: Erst am 28. Januar 1377, bezeichnenderweise dem Todestag und damit Namensfest Karls des Großen, konnte die Kirche im Beisein Karls IV. eingeweiht werden. Die Dächer waren zu dieser Zeit noch provisorisch; die heutigen Gewölbe und Kuppeln wurden später aufgesetzt: zuerst 1498 über dem Chor, und 1575 entstand das einzigartige Gewölbe von etwa 23 Metern Durchmesser, mit 24 sternförmig gestalteten und insgesamt 40 Felder bildenden Rippen über dem zentralen Oktogon.
Kult um den Vorgänger
Gleichzeitig mit der Kirche stiftete Karl IV. auf dem Karlov auch ein Augustinerkloster. Die Gründung einer kleinen Filiale dieses Klosters folgte 1354 in Ingelheim, einer alten Pfalz, die auch von Karl dem Großen auf seinen Reisen durchs Reich als Ort des Aufenthalts und der Regierungsgeschäfte diente. Im 14. Jahrhundert wurde Ingelheim allgemein für den Geburtsort Karls des Großen gehalten, für Karl IV. ein wichtiger Grund für die Wahl Ingelheims. Die Filiale ließ er dem Heiligen Wenzel und Karl dem Großen weihen. Die Chorherren vom Karlov mussten nach einer Anweisung Karls IV. dafür Sorge tragen, dass stets vier Augustiner, welche der tschechischen Sprache mächtig waren, den Ableger in Ingelheim betrieben.
Während Ingelheim der Aufbewahrungsort eines Schwertes war, das Karl der Große angeblich von einem Engel hier an seinem Geburtsort empfangen hatte, trug sich Karl IV. mit der Absicht, die Krönungsinsignien und Reliquien des Reichs in der Kirche auf dem Karlov aufzubewahren. Schließlich ließ er sie jedoch auf der Burg Karlstein verwahren, weil sich der Kirchbau auf dem Karlov zu sehr in die Länge zog. Kein Zweifel: Mit der Verknüpfung zwischen dem Karlov in Prag und Ingelheim wollte der große Luxemburger auch den Kult des Wiederbegründers des Römischen Reiches und die Verehrung des Heiligen Wenzel, seines Vorgängers auf dem böhmischen Thron, geistig eng miteinander verbinden.
Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass Karl IV. im Grunde keine Gelegenheit verstreichen ließ, seinen Namenspatron, den er zu seinen Vorfahren zählte, immer wieder und auf oft überraschende Weise zu ehren – aber nie ohne tiefere symbolische Bedeutung. Einige Beispiele: Vom Meister Theoderich von Prag ließ er die Kapelle des Heiligen Kreuzes auf der Burg Karlstein mit Porträts schmücken, unter denen sich auch ein Bild Karls des Großen befindet. 1357 machte er auf der Rückreise von Metz einen Abstecher nach Aachen, um als römischer Kaiser (1355 war er in Rom gekrönt worden) in der Pfalzkapelle auf dem Karlsthron Platz zu nehmen, wie es schon seine Vorgänger seit Karl dem Großen getan hatten.
Nach der Geburt seines heißersehnten Sohnes Wenzel (26. Februar 1361) schickte er ein kostbares Geschenk nach Aachen: einen Klumpen Gold vom Gewicht des Neugeborenen – wohl auch als Sinnbild der aufs Reich gerichteten Hoffnungen, die er mit seinem Sohn verband. Ähnlich, wie Karl IV. auf dem Karlov mit dem achteckigen Kirchbau die Aachener Pfalzkapelle nachahmte, baute er in Aachen die Chorkapelle sowie auf der Prager Burg die Allerheiligenkapelle nach dem Vorbild der Saint-Chapelle in Paris. Und als er sich in hohem Alter Ende 1377 vom brandenburgischen Tangermünde, der von ihm als Fürstensitz ausgebauten und mit einer Kaiserpfalz ausgestatteten Stadt an der Elbe, in Richtung Paris aufmachte, führte sein sorgfältig geplanter Weg über Stationen, die an Karl den Großen erinnern: So nahm er einen Umweg über Enger, wo er das dem Sachsenführer Widukind zugeschriebene Grabmal besuchte und es erneuern ließ. Dabei brachte er über Widukinds Kopf das Wappen Karls des Großen an und zu seinen Füßen den böhmischen Löwen.
Vom Kloster zum Siechenhaus
Ebenso war der vorangegangene Aufenthalt im nahen Minden kein Zufall. Karl der Große hatte nämlich mit Unterstützung seines ehemals hartnäckigen Widersachers Widukind nach dessen Taufe angeblich das Bistum Minden gegründet, wovon Karl IV. aus der Chronik Heinrichs von Herford erfahren haben dürfte, dessen Grab er in Minden aufsuchte und umgestalten ließ.
Doch noch einmal zurück zur Kirche auf dem Karlov, die auf eine wechselvolle Geschichte zurückblickt. Mehrmals werden Kirche und Kloster geplündert und schwer beschädigt, die Mönche erschlagen oder verjagt: unter anderem zweimal während der Hussitenkriege, 1611 anlässlich des Einfalls der Passauer Soldateska, 1756 bei der Beschießung Prags durch die Preußen unter dem Alten Fritz. Nach dieser letzten Beschädigung kaum wieder hergerichtet, hob Kaiser Josef II. im Zuge seiner Reformen Kirche und Kloster 1785 auf und überließ sie zunächst der Armee als Lagerräume. Ab 1789 dienten die Klostergebäude der Stadt als Siechenhaus, für die dort untergebrachten Kranken wurde die Kirche nach notdürftigen Reparaturen erneut eingesegnet.
Ob Josef II. keine Kenntnis davon hatte, wie sehr seine Mutter, Kaiserin Maria Theresia, die Kirche auf dem Karlov liebgewonnen hatte? Dort hing nämlich seit 1697 ein Bild der schwangeren Madonna, das mit der Zeit Pilgerinnen von nah und fern anzog, die Hilfe für einen glücklichen Ausgang ihrer Schwangerschaft erbitten wollten.
„Vater Europas“
Als Maria Theresia im Mai 1743 anlässlich ihrer Krönung zur böhmischen Königin in Prag weilte, war sie selbst schwanger, und, nachdem sie von dem ungewöhnlichen Marienbild und den inzwischen regen Wallfahrten erfahren hatte, pilgerte sie zum Karlov, um den Beistand Marias zu erbitten. Danach kam Maria Theresia noch zweimal nach Prag, um die Madonna auf dem Karlov aufzusuchen. Da sie hellsichtig mit weiteren Schwangerschaften rechnete, ließ sie eine kleine Kopie des Bildes anfertigen und in Wien in ihrem Schlafzimmer aufhängen. Bekanntlich erfreute sie sich und Habsburg bis 1756 fast jährlich mit neuem Mutterglück.
Diese und noch viele andere interessante Details über Geschichte und Ausstattung der Kirche erfährt man am besten bei einer Führung, die regelmäßig sonntags ab 14.45 Uhr stattfindet. Aus Anlass des 1200. Todestags Karls des Großen am 28. Januar 2014 fanden und finden in Prag Vortragsveranstaltungen und Führungen statt. Am 25. Januar las Kardinal Duka im Veitsdom eine feierliche Messe; im Dom waren auf großen Tafeln Stammbäume ausgestellt, die Karl IV. penibel als Nachkommen Karls des Großen in der 20. Generation dokumentieren. Gekommen waren auch Vertreter des böhmischen Adels, soweit sie als Nachfahren Karls des Großen gelten oder sich als solche ausgeben.
Am 28. Januar schließlich fand im Parlament eine Paneldiskussion tschechischer Historiker statt, die das Vermächtnis der beiden „Jubiläumskaiser“ Augustus und Karl der Große für das heutige Europa ausloten wollte. Man sieht: Tschechien versucht, die von Karl IV. in Böhmen begründete Tradition der Karlsverehrung fortzusetzen. Und wenn man sich bewusst macht, dass die Zeitspanne, die uns von Karl IV. trennt, nicht einmal um 100 Jahre länger ist, als diejenige zwischen Karl IV. und seinem großen Vorfahren: Kann Karl IV. nicht als ein wahrer „Mittler“ gelten zwischen Karl dem Großen und uns Heutigen?
Vom Schicksal eines Baumeisters
Der Legende nach soll im 14. Jahrhundert ein junger Schüler französischer und italienischer Baumeister, Bohuslav Stanko, in Prag gewohnt haben, der um die Hand von Agnes, der Tochter eines Prager Bürgermeisters anhielt. Dieser verspricht sie ihm unter der Bedingung, dass er sich durch ein großes Werk einen Namen macht. Da erhält er den Auftrag zum Bau der Kirche auf dem Karlov, doch sein Nebenbuhler vergällt ihm die Arbeit auf jede mögliche Art und Weise. Als der Bau seiner Vollendung zugeht und das Gerüst unter dem Gewölbe entfernt werden soll, verweigern sich bestochene Arbeiter unter dem Vorwand, das Gewölbe falle dann über ihnen zusammen. Bohuslav beschließt daher, das Gerüst anzuzünden. Mit angehaltenem Atem hören alle das Getöse der herunterfallenden brennenden Balken, unter den Anwesenden auch Karl IV. und Bohuslavs Verlobte. Plötzlich kommt ein Arbeiter gerannt und verkündet mit geheucheltem Entsetzen, das Gewölbe sei eingestürzt. Alle ringsum ergreift eine große Aufregung. Bei nachlassendem Feuer und abziehendem Rauch kommt das unversehrte Gewölbe zum Vorschein. Die begeisterten Hochrufe hört Bohuslav nicht mehr, weil er aus Angst schon vorher entflohen ist. Jahre später kommt ein einsamer Pilger zum Friedhof bei der Kirche. Der Totengräber erzählt ihm vom unglücklichen Baumeister und zeigt ihm das Grab der Verlobten. Da geht der Unbekannte zu dem bezeichneten Ort, weint über dem Grab und fällt tot auf die Erde. Unter großer Anteilnahme wird er neben seiner Verlobten bestattet. (In anderen Versionen der Legende verbündet sich Bohuslav mit dem Teufel, um das Werk zu vollenden, und findet unter dem brennenden Holz den Tod …)
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?