Vordergründig Flagge zeigen, hinter der Bühne bremsen
Der Euroskeptizismus schweißt in Tschechien alte Eliten zusammen, die sich als antikommunistisch definieren
12. 12. 2012 - Text: Jaroslav Šonka
Die gegenwärtige Krise der europäischen Haushalte findet in Tschechien einen recht einseitigen Widerhall. Ein Glück sei es, nicht den Euro angenommen zu haben – obwohl eine Verpflichtung dazu in den Verträgen verankert ist. Dass man die nachvollziehbaren einfachen Bedingungen nicht erfüllt hatte, sagt man hingegen nicht so oft. (…) Die Regierung ist begeistert, nicht zur Eurozone zu gehören, kritisiert jedoch, wenn die Eurozone auf dem besten Wege ist, einen Anlauf in Richtung Europa zweier Geschwindigkeiten zu nehmen. Vordergründig ist man proeuropäisch, hinter der Bühne bremst man. Viele bauen auf der propagandistischen Wirkung des Präsidenten Václav Klaus auf, der schon lange behauptet, die Eurozone sei kein „optimales Währungsgebiet“. Dies mag zwar mit ökonomischen Theorien begründbar sein, die wenigsten Leute schauen jedoch dabei auf den Euro-Kurs, der in den letzten Jahren ziemlich stabil ist. Und der Europa-Haushalt ist ebenfalls eine beherrschbare Größe – ohnehin bewegt er sich immer um 1 Prozent des tschechischen Bruttosozialprodukts. Bei der Euro-Debatte wird generell wenig (und in Tschechien überhaupt nicht) an die Tatsache erinnert, dass Kohl und Mitterrand mit dem Euro nicht ein Ziel wirtschaftlicher Integration zustande brachten, sondern meinten, hier eine Startlinie dieser Integration zu setzen. Das passiert auch jetzt, wenngleich es von zahlreichen Verkrampfungen begleitet wird.
Die Fahne des „Marktes ohne Attribute“ wird in Tschechien immer noch stark geschwenkt. Differenzierte Argumente etwa eines Joseph Stiglitz – der Nobelpreisträger war im Oktober 2011 in Prag und prägte die Diskussion zum Euro mit einer Metapher, man könne aus dem Rührei kaum mehr wieder einzelne Eier machen – werden nicht gerne gehört. Die Attribute des Marktes kommen jedoch durch die Hintertür wieder herein. Reformen der Pensionen und des Gesundheitswesens sind unaufschiebbar geworden. Und hier muss darüber nachgedacht werden, was „sozial“ und wovon die Stabilität der Gesellschaft abhängig ist. Der Regierung ist es jedoch gelungen, einige Vokabeln – selbst sogar „Reformen“ – für sich zu okkupieren. Sie kann es sich im Parlament leisten, die Kooperation mit der Opposition in solch wichtigen Fragen durch reine Abstimmungsgewalt zu vermeiden, Anmerkungen zu Gesetzesvorlagen unsinnig zu bündeln und ein schnelles Durchwinken zu verlangen. Die Opposition griff hilflos zu Obstruktionen (endlose Reden, Zwang zu Nachtsitzungen), die lediglich eine Verzögerung des Gesetzgebungsprozesses bewirkten. Niemand fragt jedoch danach, was in zwei Jahren passieren wird, wenn vielleicht ein Regierungswechsel zustande kommt. Die heutige Regierung denkt über ihre Nachfolger nur so viel nach, dass sie möglichst definitive Entscheidungen treffen will und eine künftige Korrektur unmöglich macht. Vielleicht nur in Ungarn gibt es eine vergleichbare politische Situation, in der Fragen langfristiger Vorgaben ohne einen gesamtgesellschaftlichen Konsensus gelöst werden sollen. So etwas wie den Vermittlungsausschuss der beiden deutschen Parlamentskammern gibt es in Tschechien nicht.
Präsident Klaus kann es sich in dieser Atmosphäre leisten, die Fonds-Finanzierung der Altersversorgung in Chile zu loben, obwohl Experten wissen, dass 38 Prozent der angehenden Rentner aus diesem System wegen zu geringen Lebenseinkommens herausfallen und der Staatskasse auf der Tasche liegen. Alles ist gut, wenn es nur weit weg von Europa ist und nichts mit dem Bismarckschen Sozialsystem zu tun hat. Währenddessen setzt die Regierung auf radikale Änderungen des sozialen Systems, und zwar mit einem Anlauf zur teilweise fondsfinanzierten Rente. Über die Möglichkeiten, später noch etwas zu ändern, spricht die Opposition nur leise. Es gibt nur wenige sachliche Analysen dieses Problemfeldes. Dies wurde dadurch verhindert, dass Klaus schon früher geschickte propagandistische Tricks angewandt hat. So sprach er in Deutschland über sein Problem mit der „sozialen Marktwirtschaft“, die doch die Silben „sozi“ enthalte – unakzeptabel für jene, die im so genannten Sozialismus litten. Interessant ist, dass er dies schon 1993 sagte, nachdem er in Bonn den Ludwig-Erhard-Preis erhalten hatte.
Tradition des Mobbing und Neville Chamberlain
„Lachende Bestien“ soll der stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich über die Tschechen gesagt haben. Als Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist eine sarkastische Position möglicherweise richtig und vielleicht sogar heldenhaft. Ob sie analytisch richtig ist, bleibt sicher umstritten. Wenn jedoch nach der europäischen Befreiung des Jahres 1989 manche der lachenden Bestien Brüssel als ein zweites Moskau bezeichnen (was vielfach geschah), zeugt diese Bezeichnung und die mit ihr verbundene Atmosphäre von einer gewollten Fehleinschätzung. Es muss gemobbt werden um jeden Preis. Ein Nachteil dieser Position besteht jedoch darin, dass der Öffentlichkeit bestimmte Sachen als wichtig vorkommen (Abwehr gegen „Moskau“), eigentliche Probleme jedoch nicht gelöst werden. Wie soll man etwa eine funktionierende Interessenkoalition innerhalb der Europäischen Union aufbauen und gleichzeitig der tschechischen Öffentlichkeit die eigene „nationale“ Bedeutung verkaufen? „National“ ist eigentlich ein Begriff, der in der letzten Zeit nicht nur in Tschechien als etwas gegen die anderen Gerichtetes verstanden wird. Die „Bild-Zeitung“ lässt grüßen. Auch das Volumen und die Richtung der Exporte werden nur selten hervorgehoben. Die Betonung der wichtigen, einträglichen und engen Verbindungen mit Deutschland (mehr als Dreiviertel der Exporte) funktioniert in Tschechien als politisches Argument nicht. Lange Jahre haben westliche Politikerinnen und Politiker die isolationistische Einstellung mancher tschechischer Eliten zu verstehen und als eine Übergangsperiode zu qualifizieren versucht – die Tschechen seien doch lange unfrei gewesen und müssten nun die erste Freiheit auskosten.
Diese leicht despektierliche Position des Westens ermöglichte es, in dem von Korruption und Vetternwirtschaft belasteten Land eine Parallelkultur zu entwickeln. Nur wenige Beobachter aus dem Ausland verstehen das tschechische Geschehen, und die Lust, sich selbst einen direkten Einblick zu verschaffen, ist nicht besonders verbreitet. Politische Eliten und mediale Öffentlichkeit im Westen Europas sind nicht besonders interessiert. Sie bewerten höchstens die Stimmen im Europarat oder im Europäischen Parlament. Mit anderen Mitteln setzt sich hier die Einstellung des damaligen britischen Ministerpräsidenten Neville Chamberlain fort, der 1938 nach seiner Rückkehr von München sagte: „How horrible, fantastic, incredible it is that we should be digging trenches and trying on gas-masks here because of a quarrel in a far-away country between people of whom we know nothing.“ Die kontinentale Kommunikation ist deformiert, bis heute, und zwar in beiden Richtungen.
Kontrollelemente der EU und subtile Ängste
Es gibt jedoch gerade im europäischen Kontext Mittel, Transparenz zu erzwingen, und zwar auf einem scheinbar kleinkarierten Gebiet. Dort arbeitet man still und beharrlich und geht in die Zeitung erst dann, wenn ein Skandal vorliegt. Gemeint ist das Wesen der finanziellen Kontrollen. Die EU hat eigene Kontrollmechanismen, die bewirken, dass die Anteile korrupter Mittelvergabe relativ gering bleiben. Die komplexen Antragsverfahren verlangen zwar danach, von professionellen Projektschreibern vorbereitet zu werden, sodass es sicher Insiderkreise gibt, die mit den Fonds besser umgehen können als andere. Doch die Internationalität der Gremienarbeit, das Auswahlverfahren in der Europäischen Kommission und eine gepflegte Transparenz der Kontrolle sind beruhigend.
Die Mittel der EU kamen jedoch im Falle der Tschechischen Republik in ein Land, in dem Transparenz und Kontrollmechanismen eher gemieden werden. Gegenwärtig droht ein Kollaps der Ko-Finanzierung aus den EU-Fonds – und keiner merkt es. Dieser Kollaps wird zeitlich dadurch bestimmt werden, dass die ersten ko-finanzierten Projekte bald abgeschlossen sind und die Endabrechnung gegenüber den Finanzierungsquellen der EU ansteht. Politische Protagonisten, die in der korrupten Atmosphäre Tschechiens an die Spitze des Staates gekommen sind, denken schon darüber nach, wie sie ihre vermeintlichen Pfründen verteidigen werden. Da sie von den Revisoren mit Sicherheit Kritisches erwarten, müssen sie eigentlich die Glaubwürdigkeit der Geldgeber und der Kontrolleure auf der europäischen Ebene in Zweifel ziehen. Es ist ein Reflex der Selbstverteidigung. Wenn täglich über Staatsaufträge berichtet wird, die überteuert sind, wenn diese Aufträge teilweise mit einer Ko-Finanzierung von Seiten der EU verbunden sind, wird die Abrechnung mit externen Prüfern die Korruption noch einmal aufzeigen – Transparency International berichtet schon seit Jahren darüber.
Die Seilschaft hält zusammen
Wie können die Reaktionen der korrupten Seilschaften aussehen, die seit Jahren – kaum kontrolliert – an Staatsaufträgen verdienen? Sie müssen klar die Kontrollmechanismen der EU in Zweifel ziehen. Der Volksmund scherzt zwar, die Lage werde besser – wer heute (als Bestechung) nicht mehr 40 Prozent nimmt, sondern nur 20, ist eigentlich auf gutem Weg, ehrlich zu werden. Doch Kontrolluntersuchungen mit Experten aus fernen Mitgliedsländern der EU werden zum schweren Problem des Landes werden. Die EU sagt doch: Wenn etwas nicht nach den Regeln verlaufen ist, soll die Ko-Finanzierung komplett zurückerstattet werden. Nur langsam wird diese Lage den Planern bewusst.
Die Lösung wäre ein Elitenwechsel. Doch die heutige politische Spitze wird nicht freiwillig abtreten. 22 Jahre, die seit dem Regimewechsel vergangen sind, wird vielfach darüber nachgedacht, wie stark die heutigen Eliten in der kommunistischen Vergangenheit verwurzelt sind. Eine Untersuchung, die im November 2011 im Wochenblatt „Ekonom“ veröffentlicht wurde, spricht von immer noch 40 Prozent der Eliten der Wirtschaft und der Politik, die schon zu kommunistischer Zeit Karriere gemacht haben (die kommunistischen Karrierestudenten der achtziger Jahre sind darin nicht enthalten). Dies mag auch die Ursache dafür sein, dass diese Menschen besonders heftig das Gegenteil des vergangenen kommunistischen Regimes meinen vertreten zu müssen. Sie sind meist die radikalsten Neoliberalen. Psychologisch ist hier Europa, mit menschenrechtlich und sozial begründeten Rechten, ein geeigneter Gegner. „Haltet den Dieb“ rufen die umgefärbten Eliten. Sie können sich ziemlich sicher sein, dass sie bald nicht mehr nach ihrer Vergangenheit gefragt werden. Oder doch?
Die nächste Generation versteht es anders
Interessant ist dabei, dass diese Situation eigentlich nur die Eliten im Alter um 50 betrifft. Ältere Menschen haben meist eine durch die Kollaboration im Kommunismus stark deformierte Biographie und sind ohnehin schon im Rentenalter. Einige wenige dieser Generation wurden zwar durch den Widerstand geprägt (der jedoch zahlenmäßig nicht sehr stark war), aber auch sie sind bereits in der Rente. Jüngere sind von den 22 Jahren tschechischer Transformation enttäuscht und nehmen die Argumente der heutigen Minister meist mit Skepsis auf. Wenn zuletzt ein neuer Minister berufen wurde und im Interview auf journalistische Einwürfe über seine persönliche Vergangenheit sagte „Pate, das war früher“, hat dies eine breite Belustigung – vor allem unter jungen Menschen – hervorgerufen. Die heranwachsenden Eliten haben jedoch zunächst kaum Chancen, in die entscheidenden Positionen hineinzuwachsen. Sie werden entweder zur starken Einbindung gezwungen oder ausgeschlossen. Europa ist für die jungen Tschechinnen und Tschechen – neben den USA – eine Möglichkeit, vor diesen Verhältnissen zu Hause zu fliehen. Junge Menschen haben vielfach bereits ein Studium im Ausland absolviert, haben wesentlich bessere Fremdsprachenkenntnisse als ihre Väter und Mütter.
Arbeit im Ausland ist für sie gut vorstellbar und wird immer mehr zu einer realen Option. Interessant ist, dass auch hier Europa eine Rolle spielt. In diversen Chats wird darüber debattiert, ob es besser ist, in der EU oder etwa in Australien zu arbeiten. Junge Menschen verstehen dabei gut, dass die persönliche Freiheit und eine soziale Absicherung zusammen gehören. Sie wissen auch gut, in welchen Ländern welche dieser Aspekte berücksichtigt werden – in jüngeren Jahren das Geld in den USA oder in Australien verdienen, den Lebensabend jedoch in Europa planen. Sie werden für die heute Regierenden auf diese Weise zu einer richtigen Bedrohung. Sie können mit Europa auch viel mehr verbinden, etwa Bildungschancen.
Die gegenwärtige Integrationskrise der EU ist jedoch eine Klippe auch für die Jungen. Schafft die EU den nächsten Schritt? Wenn ja, wo wird Tschechien mitspielen? Junge Tschechinnen und Tschechen werden dann das Abdriften Tschechiens in die zweite Gruppe im Europa zweier Geschwindigkeiten nicht akzeptieren. Und sie werden dafür die eigene Regierung, nicht „Brüssel“ verantwortlich machen. Dies ist vor dem Hintergrund der europa-kritischen, nörgelnden Boulevardpresse (wieder kaum ein Unterschied zur „Bild-Zeitung“) eine optimistische Perspektive.
Europäische Klippen und Varianten
Die Schlacht um den nächsten Schritt europäischer Integration ist noch nicht entschieden. Ist es so, dass die Probleme eine weitere Integration erzwingen und Großbritannien an den Rand des Integrationsprozesses verdrängen? Wird der Kern der EU dann kleinere Staaten vor die Wahl stellen: erste Gruppe oder zweite? Oder wird das Abgleiten in nationale Partikularismen die Integration stoppen oder gar rückgängig machen? Dann wird Václav Klaus, eine Art tschechischer Berlusconi, triumphieren.
Eine Frage scheint jedoch bereits entschieden zu sein – es ist der fortdauernde Unterschied zwischen der tschechischen und der globalen Debatte. Die stark fallende Begeisterung der Weltöffentlichkeit für den reinen Neoliberalismus bleibt in Tschechien fast unbemerkt (die Korrelation dieser Erscheinung mit dem Euroskeptizismus ist sehr hoch). Diese Einstellungen können jedoch nicht überleben. Der Paradigmenwechsel wird auch in Prag bald die Aufmerksamkeit erzwingen – eine Verarmung bestimmter Gruppen, Probleme mit der Rente, Vergleiche mit erfolgreichen Ländern werden die tschechischen Parteien zur Änderung der Rhetorik zwingen. Hoffentlich entsteht so eine Atmosphäre entgegenkommender europäischer Debatte. Gemeinsame Regeln, „best practices“, machen Reformschritte leichter. Erprobtes und Besprochenes ist ein gemeinsames Kapital.
Der Autor ist als Publizist und politischer Berater tätig. Nach 16 Jahren der Mitarbeit an der Europäischen Akademie Berlin leitet er seit 2011 das „European Shoah Legacy Institute“ in Prag. Der Essay erschien zunächst in der Vierteljahresschrift
„OST-WEST. Europäische Perspektiven“ unter dem Themenschwerpunkt „Zweifel an Europa?“.
„Online-Medien sind Pioniere“
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