Warum ich Fußball nicht vermisse …
… obwohl er seit Jahrzehnten ganz wesentlich mein Leben prägt
5. 5. 2020 - Text: Klaus Hanisch
Die Fußball-EM aufs nächste Jahr verschoben? Noch vor ein paar Wochen für mich eine bittere Enttäuschung. Heute sehe ich darin die einzig logische Entscheidung. Ich kann mich nicht erinnern, seit der WM 1966 ein wichtiges Fußballspiel verpasst zu haben. Nicht bei einer EM oder WM, nicht im Europapokal der Landesmeister, später Champions League, oder im Uefa Cup, jetzt Europa League. Nicht einmal bei der Copa America oder beim Africa Cup, sofern die Partie im Fernsehen übertragen wurde.
In Prag sitze ich regelmäßig in den Stadien von Slavia und den Bohemians in der ersten Liga. Am gleichen Wochenende oft noch bei Viktoria Zizkov, Sonntag, 10.15 Uhr, in der zweiten Liga. Oder ich stehe an Sportplätzen. Vor allem bei ABC Branik, fünfte tschechische Liga.
Und jeden Samstag habe ich einen Fixtermin: 15.30 Uhr, Radio-Konferenz der Spiele in der Bundesliga. Anschließend ab 18 Uhr die Sportschau im Ersten. Und am späten Abend das aktuelle Sport-Studio im ZDF, wegen des Abendspiels in Deutschlands höchster Spielklasse. Das ist mein Wochenende, seit Jahrzehnten. Nun rollt seit Mitte März kein Ball mehr, weder in Tschechien noch in Deutschland. Kein Profifußball, keine Amateurspiele – und ich vermisse all das überhaupt nicht. Wie ist das möglich? Natürlich in erster Linie wegen der Sorge um das höchste Gut, die Gesundheit, die derzeit vieles in den Hintergrund rückt. Als Anfang April in Dortmund das größte Fußballstadion Deutschlands für die Versorgung von Coronavirus-Verdachtsfällen und für Patienten mit entsprechenden Beschwerden umgerüstet wurde, war endgültig klar, dass Fußball nur noch die „schönste Nebensache der Welt“ ist.
Aber auch wegen Meldungen wie dieser: vor fünf Monaten entließ der englische Spitzenklub Tottenham Hotspur seinen Trainer – und überweist ihm trotzdem laut Medienberichten weiter rund zehn Millionen Euro im Jahr. Am gleichen Tag war zu sehen, dass eine selbständige Berliner Modeschneiderin vier von fünf Mitarbeiterinnen entlassen muss. Seit fast 20 Jahren hält sie ihr kleines Unternehmen über Wasser, konnte allerdings keine Reserven für Krisenfälle wie jetzt anhäufen. Deshalb wünscht sie sich ein Grundeinkommen: 1.200 Euro im Monat. Auf dieser Basis könnte der Klub aus dem Norden Londons mit dem, was er seinem Ex-Trainer fürs Nichtstun hinterherwirft, die Schneiderin 694 Jahre lang finanzieren!
Lange habe ich diese Millionäre in kurzen Hosen verteidigt. Mit dem banalen Argument, dass etwa ein Dachdecker fraglos einen ehrenwerten Job ausübt, damit jedoch – im Gegensatz zu Fußballern – nicht Millionen Menschen begeistern kann und ihm auch nicht Millionen bei seiner Arbeit zuschauen wollen, wie in Stadien oder an Fernsehgeräten. Das war an jenem Tag vorbei, an dem sich der französische Fußballer Franck Ribéry ein goldenes Steak servieren ließ. Für mich der Sündenfall des Profifußballs. Deutlicher konnte ein Spieler seinen Narzissmus nicht vor Augen führen. Und sinnbildlich auch die Gefräßigkeit seiner Branche.
No better way to start the year than with a dash of salt and a visit to my Turkish brother 🇹🇷👌🏼 #SaltBae #fr7👑 #ELHAMDOULILLAH🤲🏽♥️ pic.twitter.com/O5ztj4mueq
— Franck Ribéry (@FranckRibery) January 3, 2019
In den 1980er Jahren nahm sich Karl-Heinz Rummenigge seinen jüngeren Bruder zur Brust, weil der schwadroniert hatte, dass ihn die Meinung eines Zuschauers in den Fankurven herzlich wenig interessiere. Damals machte der ältere Rummenigge seinem nassforschen Verwandten noch klar, dass auch er von den Eintrittskarten gerade jenes Zuschauers lebe. Nun ist die Mehrzahl der Profis mehr als nur einen Sprint weg von normalen Menschen und vom alltäglichen Leben.
Anfang der 1990er Jahre habe ich Schalke-Fans bei einem Auswärtsspiel in der tiefsten Provinz beobachtet. Sie schossen unzählige Fotos von sich und der eher langweiligen Umgebung, feierten ihren Ausflug dorthin wie einen Sieg ihrer Mannschaft. Im August 2018 hörte ich Schwarzhändler, die sich in einer Kneipe dafür feierten, kurz zuvor Schalke-Fans 400 Euro für ein Ticket abgeknöpft zu haben, das sie selbst nur 20 Euro kostete. Selbst zu diesem Wucherpreis wollten die Anhänger nicht auf ein Pokalspiel ihres Klubs in einem ausverkauften Auswärtsstadion verzichten. Worauf die Schwarzhändler vom Publikum in der Kneipe als „asoziales Gesindel“ beschimpft wurden. Und trotz dieser überragenden Fan-Kultur stellte ausgerechnet Schalke 04 seine drohende Insolvenz in den Raum, kaum dass Corona begonnen hatte …
Profiabteilungen der Klubs sind heute Wirtschaftsunternehmen, die den Gesetzen der Marktwirtschaft folgen müssen. Doch es erschreckt mich, dass Klubs Millionenumsätze erzielen, ständig neue Umsatzrekorde vermelden und trotzdem nicht in der Lage sind, eine Krise ein paar Monate lang auszusitzen. Corona hat erschlossen, wie stark die Vereine am Tropf von Spielern, Gehältern und raffgierigen Beratern hängen.
Vor ein paar Jahren unterstellte ich in einem Artikel, dass bei nationalen und internationalen Premium-Partien mittlerweile so viel Geld im Spiel sei, dass solche Begegnungen problemlos auf Zuschauer verzichten könnten. Nun sollen tatsächlich Geisterspiele die nationalen Profi-Ligen und europäischen Wettbewerbe retten. Wie ärgerlich solche Partien sind, zeigte sich im März in der Champions League und Bundesliga. Kein Torjubel, keine Anfeuerung bei fließenden Aktionen, kein enttäuschter Aufschrei, wenn ein Schuss knapp das Tor verfehlt. Dafür Anweisungen der Torhüter an ihre Vorderleute, die über Außenmikrofone bis in die Wohnzimmer zu verstehen sind. Ein paar Minuten lang ganz unterhaltsam, dann aber ätzend langweilig.
Sind Profi-Fußballer systemrelevanter als Künstler, die weiterhin nicht in Theatern oder Musiksälen auftreten dürfen? Oder als Handballer und Eishockeyspieler, die ihre Saison abbrechen mussten? Und als Amateur-Fußballer, denen weiterhin Spiele untersagt sind? Um wenigstens etwas Geld für ihren um die Existenz fürchtenden Verein zu sammeln, wollten Spieler in einer fränkischen Gemeinde kürzlich Bier für kleines Geld unter Ortsbewohnern verteilen, unter strengen hygienischen Voraussetzungen. Eine mehrfache Win-Situation: Die örtliche Brauerei wird wegen Corona aufgeben und hätte ihr Bier nicht wegschütten müssen, die Bürger endlich mal wieder ein Bier vom Fass bekommen und der Verein zumindest ein paar Euro verdient. Doch der Landrat lehnte die Aktion mit der Begründung ab, es sei nicht die Zeit, quasi Freibier auszugeben, während gleichzeitig Menschen in nahen Altenheimen sterben.
Profis sollen jedoch wieder spielen dürfen, wobei Geisterspiele einmal mehr unterstreichen, dass im Fußball-Business nicht mehr Fans und Zuschauer die Kunden sind, sondern vor allem Pay-TV-Sender. Ja, auch ich habe von Anfang an Abos bei diesen Anbietern abgeschlossen, zuerst bei Premiere, dann bei Sky, jetzt DAZN. Denn anders ist es nicht mehr möglich, in den großen internationalen Wettbewerben auch Achtel-, Viertel- oder Halbfinalspiele zu sehen. Und Gruppenspiele. Sowie Spiele in der englischen, spanischen oder italienischen Liga. Liverpool live – selbst am Fernseher ein Erlebnis!
Wer sich darauf einlässt, wird nun aber von Montag bis Sonntag vollgestopft mit Spiel-Angeboten. Und ich nutze sie auch, weil die Abos teuer sind. Dafür gibt es jetzt nicht mehr den Samstag, 15.30 Uhr als Regelzeit für alle Spiele in der Bundesliga. Auch die kleine tschechische Liga verteilt ihre Partien schon länger übers Wochenende bis zum Montag. Und das bedeutet: Übersättigung!
Fußball verkommt zur Alltagsware. In den 1970er- oder 80er Jahren war der Mittwoch ein Festtag, reserviert für Europacup-Abende oder Länderspiele, von denen es kaum mehr als fünf im Jahr gab. Highlights, auf die man sich wochenlang freute. Nun wurde auch noch die Nations League auf die Fernseher geworfen, die Klub-WM soll zu einer Monster-Veranstaltung aufgeblasen werden, bei EM und WM spielen immer mehr Länder, damit die Fifa noch mehr Geld raffen kann. Selbst eine Partie zwischen Marokko und dem Iran füllt nun zwei Stunden Sendezeit. Wer, bitteschön, will das wirklich sehen? Ich nicht mehr.
Dadurch fühle ich mich zunehmend entfremdet von meinem Sport, den ich als Jugendlicher selbst jahrelang mit größter Begeisterung ausgeübt habe. Meine Freude am Spiel wird überlagert von Neben-Schauplätzen, Abgängigkeiten, Kungeleien, Aufgeregtheiten. Jedes Wehwehchen eines Spielers ist eine Nachricht wert, ebenso wer wo welchen Vertrag unterschreibt. Oder doch nicht. Und wo Stars (sich selbst) feiern, wo Weltmeister Boateng ein Print-Magazin unter seinem Namen feiert – gibt’s das überhaupt noch?
Mein Sport wurde fremdbesetzt. Von Menschen, die Stadien füllen, ohne nur einen einzigen Spieler auf dem Rasen mit Namen zu kennen. Nur weil das hip ist. Oder aus gruppendynamischen Gründen. Wobei ihnen das Glas Champagner wichtiger sein dürfte als das runde Leder. Da lobe ich mir Prag, wo Eintrittspreise den Fußball nicht zu einem elitären Event machen, sondern zu einem Vergnügen für alle: 230 Kronen für einen Tribünenplatz bei den Bohemians, etwas mehr als neun Euro, dafür kann ich nicht einmal mehr jedes Spiel in der deutschen Regionalliga sehen, vierte Liga. Und die 100 Kronen bei der Viktorka in Žižkov sind mehr eine Spende als der Eintritt für eine Zweitliga-Partie. Dort gibt es auch keinen Champagner mit Häppchen, sondern köstliches Bier mit der besten Bratwurst im tschechischen Fußball.
Noch schlimmer: Ultras und Randalierern missbrauchen immer häufiger das Spiel, um Hass zu predigen. Weswegen immer mehr Polizisten vor Stadien patrouillieren. Wodurch die Atmosphäre in und um eine Arena immer bedrohlicher wird. Für mich ist es durchaus okay, dass einer wie Dietmar Hopp seinen Lieblingsverein aufmöbelt, wenn auch retortenhaft – sofern er darüber nicht die Jugend und andere Abteilungen in diesem Klub vergisst. Gerade Hopp wurde ja plötzlich zu einer Art von „Nationalheld“, weil er seine am Impfstoff gegen Corona forschende Firma nicht dem egomanen US-Präsidenten in den Rachen werfen wollte.
Freilich zeigt sich auch in Prag, dass viel Geld schnell Selbstverliebtheit hervorrufen kann. Die Arroganz von Serienmeister Sparta ist seit Jahren sprichwörtlich und Slavia muss unter seinem chinesischen Eigner aufpassen, dass ihm der wachsende sportliche Erfolg nicht allmählich zu Kopf steigt – sofern die Chinesen wegen und nach Corona überhaupt noch Eigentümer bleiben wollen.
Fußball war immer in erster Linie Unterhaltung und nie wirklich nötig, um zu (über)leben. Erschaffen für Fans des Spiels und zur Freude von Anhängern der Vereine. Das sollte nicht vergessen werden! Auch jetzt kein Selbstzweck, keine Beschäftigung für den eigenen Geldbeutel, als weltweite Unterhaltungsindustrie. Doch genau dazu verkam sie durch den wachsenden wirtschaftlichen Erfolg. Selbstherrliche Akteure – Spieler, Berater, Manager, Vereinsvorstände – haben diese Branche zu einem vor allem mit sich selbst beschäftigten und für sich selbst interessierenden Mikrokosmos fehlentwickelt. Mit Ablösesummen, bei denen mich Brechreiz überkommt. Die Floskel, dass es selbst in den höchsten Klassen noch vor allem um die Fans gehe, wurde durch zu viele Kompromisse und Taten widerlegt. In Wirklichkeit werden am Samstag um 15.30 Uhr manchmal gerade noch vier Bundesligaspiele angepfiffen. Entscheidungsträger, die diese Entwicklung reflektieren wie einst Rummenigge, sind rar geworden. Und noch seltener sind die, die diese Fehler korrigieren wollen. Spontan fällt mir nur der Chef der „Deutschen Fußball Liga“ ein, Christian Seifert, und sein kluges Interview in der FAZ vor wenigen Tagen.
Corona hat auf krasse Weise Werte aufleben lassen, die so gar nicht in den egozentrischen Profi-Fußball passen wollen: Solidarität, Vertrauen, gegenseitige Unterstützung. Trotzdem haben Profis wie Nationaltorhüter Kevin Trapp ihre reichlich freien Tage dazu genutzt, Nahrungsmittel an Bedürftige in ihrer Umgebung auszuliefern. Der oft verhöhnte Superstar Cristiano Ronaldo finanzierte Betten für Krankenhäuser in seiner portugiesischen Heimat. Auch tschechische Spieler verzichteten – mehr oder weniger gezwungen – auf Gehälter. Die vom FC Hradec Králové, einem Spitzenteam der zweiten Liga, bekommen zwar ihren kompletten Lohn, kauften aber mit einem Teil davon Desinfektionsmittel, Obst und Vitamintabletten für ein Kinderheim. Das macht mir Mut, dass die Branche noch nicht komplett geldverseucht ist.
Sicherlich verdrießt mich auch, dass diese Branche meine Arbeit so sehr erschwert wie keine andere. Nicht bei deutschen Fußball-Klubs, dafür umso mehr bei den tschechischen. Hätte ich mich auf Zusagen von Pressesprechern der großen Prager Vereine verlassen, gäbe es bis heute kein einziges Interview für unsere Leser. Dabei zitieren andere Medien nichts häufiger aus der „Prager Zeitung“ als unsere Gespräche mit Spitzenspielern.
Mit vielen großen Partien der deutschen Nationalelf verbinde ich persönliche Erlebnisse. Kaum lief das Spiel zu deren historischem ersten Sieg 1972 in Wembley, da klingelte es Sturm an unserer Wohnungstür. Davor stand ein verzweifelter Onkel mit hochroten Kopf, nach einem Sturmlauf kaum noch in der Lage, ein Wort herauszubringen. Bei seinem Anblick fürchteten wir das Schlimmste. „Um Himmels Willen“, rief meine Großmutter, „ist was mit Elfriede?“ „Noch schlimmer“, stammelte er mühsam, „mein Fernseher ist explodiert, genau beim Anstoß …“ Trotzdem bin ich kein Fan-Nostalgiker nach dem Motto: war alles besser, als Günter Netzer noch aus der Tiefe des Raums kam. Auch wenn ich früher in Sportzeitungen sogar Artikel über die Sportfreunde Eisbachtal gelesen habe, irgendwo zwischen Pfalz und Saarland.
Werde ich mir nach Corona (aus all diesen Gründen) keine Spiele mehr ansehen? Doch, natürlich. Vielleicht nicht mehr so viele wie davor. Und möglicherweise nicht mehr mit der Freude. Denn erst durch Corona wurde mir klar, wie bizarr er in vielen Facetten wirkt, wie aus der Zeit gefallen in seiner Selbstgefälligkeit und seinem Anspruchsdenken. Masken helfen künftig nicht mehr. Der Profi-Fußball gehört auf die Intensivstation!
Ein wunderschön geschriebener Artikel, der meine volle Unterstützung erhält. Wenn möglich, schaue auch ich mir gerne Spiele in Franzensbad und Eger an und genieße die dortige Atmosphäre.
Vielen Dank für den Bericht.
Ein sehr guter und wahrer Bericht bzw. Kommentar.
Besonders der Teil zu den Mittwochspielen der 70- ziger und 80- ziger Jahre.
Wenn Europapokal war lag über der ganzen Stadt (Dresden) eine besondere Atmosphäre. Nicht genau zu erklären, aber es war ein ganz besonderer Tag.
Alles andere zum heutigen Fußball kann ich nur bestätigen!
dem Inhalt dieses Artikels kann ich mich wirklich vollständig anschließen, trifft den Punkt. Gefühlslage gut getroffen und dargelegt. Danke.