Warum nicht die Tschechen?
Eishockey-WM

Warum nicht die Tschechen?

Martin Reichel freut sich – trotz allem – auf die Titelkämpfe in Lettland. Seine Familie bildet eine deutsch-tschechische Eishockey-Dynastie

20. 5. 2021 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Arthur Edelmans

PZ: Am 21. Mai beginnt die Eishockey-WM in Lettland. Eröffnet wird sie mit zwei Partien: Tschechien gegen Russland, ein absoluter Klassiker, und Deutschland gegen Italien. Doch: Noch immer Corona, Weißrussland als Co-Gastgeber aus politischen Gründen ausgeschlossen, Teams in einer Blase, vermutlich keine Zuschauer – macht Ihnen diese WM überhaupt Spaß?
Martin Reichel: Klar, diese WM wird anders sein als in den Jahren zuvor. Aber in der DEL gab es in der letzten Saison auch keine Zuschauer und dennoch sehr gute Partien. Für die Spieler ist es was Neues, in einer Blase zu leben, deshalb haben wohl auch deutsche Spieler abgesagt. Es ist nicht einfach, doch es wird wenigstens Eishockey gespielt. Ich werde mir die WM jedenfalls gerne ansehen.

Sie haben weit über 100 Länderspiele für das deutsche Team absolviert, waren bei fünf A-Weltmeisterschaften und zwei Olympia-Turnieren dabei. Nun gibt es wieder eine WM ohne Stars aus der NHL, weil dort im Mai erst die Play-offs ausgetragen werden. Dazu Absagen deutscher Stars, denen nach dieser Corona-Saison die Motivation fehlt – ist eine WM jedes Jahr überhaupt noch sinnvoll?
Wir kennen es nur so – und ich habe mich immer darauf gefreut. Für Spieler, die gerade erst bei den Play-offs ausgeschieden sind, ist es nicht immer leicht, sich sofort danach auf eine WM vorzubereiten. Wenn man dann aber dort spielt, ist es besonders. Für ein Land zu spielen, macht einfach Spaß. Und es macht die Spieler auch stolz. Ob es anders wäre, wenn man eine WM nur alle zwei oder vier Jahre austragen würde, weiß ich nicht. Es war nie anders.

Sie sehen also nicht den sportlichen Wert des Wettbewerbs und des Weltmeister-Titels beschädigt, wenn stets die Besten fehlen?
Man kann es auch umgekehrt sehen und sich darüber freuen, dass der eine oder andere Star zur WM kommt, nachdem er mit seinem Klub in der NHL ausgeschieden ist. Nur so kann man diese Spieler als Zuschauer mal im Fernsehen oder – in normalen Zeiten – sogar live erleben. Außerdem gibt es ja auch Stars in der russischen und schwedischen Liga, die bei der WM mitspielen. Und man sieht aufstrebende Talente und kann sich ein Urteil über sie bilden. Man sieht bei einer WM also Spieler, die schon wer sind und solche, aus denen was werden kann. Das Niveau ist daher trotzdem sehr hoch. Ich finde ganz okay, wie es ist. Wobei es nicht nur um die Spieler geht …

… um wen oder was geht es noch?
Es geht auch um die verschiedenen Systeme. Finnen und Schweden spielen ein anderes Eishockey als die Kanadier oder Russen. Dies zu vergleichen, macht mir immer viel Spaß. Zudem weiß man ja nie, wer aus der NHL tatsächlich kommt. Tschechische Zeitungen berichteten, dass acht tschechische NHL-Spieler für die WM zugesagt hätten. Wer von ihnen in Lettland tatsächlich auf dem Eis steht, muss man abwarten.

Geboren wurden Sie in Most (Brüx) in der Tschechoslowakei, spielten aber gleich nach der Grenzöffnung schon mit 17 Jahren für den EHC Freiburg. Da Ihre Eltern deutschstämmig waren, konnten Sie auch für Deutschland antreten. War es für Ihre Karriere wichtig, dass der aus Tschechien stammende Luděk Bukač damals Bundestrainer war?
Wenn man einen namhaften Trainer wie Dr. Luděk Bukač hat, dann kann man nur lernen. Ich weiß noch, dass ich als kleines Kind die WM 1985 voller Begeisterung verfolgt habe. Damals wurde die ČSSR im eigenen Land Weltmeister – unter Trainer Bukač. Er ist eine tschechische Legende und hat mir gemeinsam mit Franz Reindl die Chance gegeben, schon als junger Spieler bei der WM 1994 in Bozen dabei zu sein.

Sie absolvierten über 700 Spiele in der Deutschen Eishockey-Liga, obwohl Sie anfangs nur kurz in Deutschland bleiben wollten, als Zwischenstation in die NHL. Denn 1992 wurden Sie von den Edmonton Oilers in der zweiten Runde an Position 37 ausgewählt. Aus heutiger Sicht: War Ihre damals erlittene Verletzung, ein Kahnbeinbruch, letztlich entscheidend dafür, dass Sie den Sprung nach Übersee verpassten?
Schwierig. Klar habe ich mir die Frage gestellt, was passiert wäre, wenn ich nach Edmonton gegangen wäre. Ich kann sie heute nicht mehr beantworten. Und natürlich hatte diese Verletzung Anteil daran, dass ich in Deutschland geblieben bin. Sie war langwierig, ich hatte zwei Operationen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die NHL damals nicht so präsent war wie heute durch Fernsehen und soziale Medien. Ich habe entschieden, nach Rosenheim zu gehen, habe hier meine Frau kennengelernt und lebe jetzt immer noch in der Nähe von Rosenheim. Im Rückblick bereue ich nichts, ich habe alles richtig gemacht.

Ihr Bruder Robert wurde 1989 nur an Position 70 „gedraftet“, absolvierte aber in der NHL 900 Partien. Blicken Sie heute manchmal mit etwas Neid auf dessen glanzvolle Karriere?
Nein, überhaupt nicht. Robert war ein exzellenter Spieler, eine Persönlichkeit. Ich verstehe bis heute nicht, warum er nur an Nummer 70 gewählt wurde. Er hätte in der ersten Runde dabei sein müssen. Zwar gab es auch bei ihm Höhen und Tiefen in der NHL und der Nationalmannschaft, trotzdem hatte er eine fantastische Karriere. Nein, kein Neid. Wir sind Brüder und verstehen uns sehr gut. Er hat seinen Weg gemacht und ich meinen.

Als Sie 2017 in die Hall of Fame des deutschen Eishockeys aufgenommen wurden, merkte DEB-Präsident Franz Reindl an, dass internationale Begegnungen zwischen Brüdern wie bei Ihnen und Robert äußerst selten seien. Robert ist in Tschechien eine Eishockey-Legende, wurde Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister, war Kapitän der tschechischen Auswahl. Warum sind Sie nicht nach Tschechien zurückgegangen, nachdem aus der NHL nichts wurde?
Ein wichtiger Grund war sicherlich, dass ich damals vom Deutschen Eishockey-Bund in die deutsche Nationalmannschaft eingeladen wurde. Nachdem ich schon hier lebte, habe ich mich entschlossen, für sie zu spielen. Ich habe jedes Spiel genossen. Und es gab viele besonders Momente, speziell bei Olympischen Spielen. In Salt Lake City bekamen wir in der Zwischenrunde eine Klatsche von den Tschechen, mit 2:7, glaube ich [das Spiel endete aus deutscher Sicht sogar 2:8; Anm. PZ]. Und natürlich war es etwas Besonderes, gegen den eigenen Bruder zu spielen. Zum Beispiel, wenn wir uns beim Bully gegenüberstanden. Das passiert sicher nicht oft in der Sport-Geschichte. Bei Olympia in Nagano habe ich mich mit Robert zum Frühstück getroffen, dann ging jeder seine Wege – und er bis zum Olympiasieg.

Bruder Robert spielte fünf Jahre bei den Calgary Flames.

Tschechische Freunde und auch Kollegen schwärmen heute noch vom tschechischen Olympiasieg in Nagano 1998. Haben Sie das Endspiel vor Ort live erlebt?
Beim Endspiel waren wir schon wieder zu Hause. Ich spielte damals für Nürnberg und habe das Finale dort mit meinen Eltern am Fernseher gesehen, ganz früh am Morgen. Natürlich haben wir uns riesig gefreut, die Russen waren ja ebenfalls sehr stark. Ein Tor hat zugunsten der Tschechen entschieden. Für sie war es wie eine Weltmeisterschaft im Fußball für die Deutschen.

Vor Ihrer Zeit in Deutschland spielten Sie für den tschechischen Nachwuchs, waren in der Kaderschmiede in Litvínov. War das nicht ein komisches Gefühl für Sie, bei Olympia in Salt Lake City und auch bei der WM 2004 in Prag gegen die Tschechen zu spielen, nachdem Sie in der ČSSR geboren wurden und Ihre Kindheit und Jugend dort verbracht hatten?
Klar war das komisch. Ich habe Jungs getroffen, gegen die ich früher im Nachwuchs gespielt habe, sogar Schulfreunde. Aber es war auch schön, wir haben geplaudert, auch mal ein Bierchen oder einen Kaffee getrunken. Es hat viel Spaß gemacht.

Robert prägte die glorreiche Zeit des tschechischen Eishockeys zwischen der Mitte der 1990er und dem Beginn der 2000er Jahre wesentlich mit. Er wurde 2015 in die Hall of Fame des Internationalen Eishockeys aufgenommen, spielte auch in Frankfurt und spricht Deutsch. Tauschen Sie sich mit Ihrem Bruder während der WM telefonisch aus – und in welcher Sprache?
Wenn wir miteinander reden, dann immer noch auf Tschechisch. Aber wegen der WM werden wir in den nächsten Tagen nicht viel telefonieren. Das war früher mehr, als er noch tschechischer Assistenztrainer war. Ich bin eher neutral und freue mich darauf, neben der deutschen und tschechischen Mannschaft auch andere zu sehen.

Sie zählten ab 1990 zu den Freiburg-Boys, also jenen tschechischen Spielern, die nach der Grenzöffnung den Eishockey-Kader beim EHC im Breisgau verstärkten. Wie Eduard Uvíra, heute Jugendtrainer in Ingolstadt. Er bezeichnet sich selbst als „harter Hund“. Sie trainieren hauptberuflich die U11 und U15 in Rosenheim. Sind Sie auch ein harter Hund?
Nein, so würde ich mich nicht bezeichnen. Aber es gibt gewisse Regeln, die von allen eingehalten werden müssen. Und oft reden in diesen Jahrgängen ja auch noch die Eltern mit … Es macht mir großen Spaß, mit Kindern zu arbeiten und zu sehen, wie sie sich entwickeln, sportlich und sozial. Wenn einer dann bei den Erwachsenen ankommt, freue ich mich riesig. Doch es war eine schwierige Saison, seit November kein geregelter Spielbetrieb, Eistraining nur mit Kaderspielern. Aber das war überall so wegen Corona, das muss man einfach akzeptieren. Deshalb freue ich mich schon auf das Sommertraining in kleinen Gruppen.

DEB-Präsident Reindl betonte 2017 auch, dass Sie ein Vorbild für die Jugend sind. Sie haben Ihren Sohn Lukas betreut, er stellt in Interviews immer wieder heraus, dass er viel von Ihnen gelernt hat. Was meint er damit?
Vielleicht, was harte Arbeit bedeutet. Das ist sehr wichtig. Er hat ein Riesentalent, aber arbeiten muss er selber. Und das macht er auch. Als ich ihn in der U17 trainiert habe, wurde auf der Heimfahrt nach dem Spiel immer nur über Eishockey diskutiert. Es sind Kleinigkeiten, die ich dabei weitergeben konnte, Fehler ansprechen oder Ratschläge geben. Kinder nehmen so etwas auf und setzen es beim nächsten Spiel um. Lukas hat das weitergebracht, trotz seiner großen Fähigkeiten. Jetzt muss man abwarten, wie sein Weg weitergeht.

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Lukas ist erst 18 und setzt schon die Reichel-Dynastie fort: Er wurde gerade mit den Eisbären Berlin deutscher Meister, Sie gewannen den Titel 2004 mit den Frankfurt Lions. Zudem könnte er bald in der NHL spielen, die Chicago Blackhawks haben ihn „gedraftet“, dort begann auch der Weg von Dominik Kahun in der NHL. Lukas ist damit zugleich auf den Spuren anderer Söhne von berühmten deutschen Eishockey-Stars. Wird er ein neuer Tom Kühnhackl oder Leon Draisaitl?
Das ist schwer vorauszusagen. Er muss einfach seinen Weg gehen. Ob er es in der NHL schafft, entscheidet nur er. Lukas weiß, was er kann und wo er vielleicht noch besser werden muss. In Berlin ist er in sehr guten Händen. Sollte er demnächst in die USA gehen, liegt es nur an ihm.

Wo muss er sich noch verbessern?
Er kann noch bei der Kraft zulegen und stabiler werden. Und dann muss er an Kleinigkeiten arbeiten: Wie man besser Bully spielt, die Entscheidung, wann man besser schießt oder passt. Auch aus Chicago bekommt er bereits Tipps, die Development Coaches sehen sich mit ihm Videos an und weisen ihn darauf hin, was gut war und was besser werden kann. Es läuft für ihn schon sehr gut.

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Lukas musste im Dezember wegen einer Corona-Erkrankung auf die U20-WM in Kanada verzichten, steht nun aber im Kader für Lettland. Fans aus Chicago feierten ihn bereits nach Eisbären-Spielen in den sozialen Netzwerken. Daher die Frage an Vater Reichel: Wird der Druck auf ihn nicht schon zu groß?
Ist doch klar, dass ein Riesentrubel entsteht, wenn man von Chicago gleich in der ersten Runde gedraftet wird. Ich war mit meiner Frau und dem größeren Bruder Thomas in Berlin, als Lukas von den Blackhawks ausgewählt wurde. Sofort danach wurde er von der Presse aus Chicago mit Fragen bombardiert. Auch von vielen anderen.

Wie verkraftet er das alles?
Er ist diesbezüglich ziemlich locker und nimmt alles recht souverän hin. Schon vor dem Draft musste er ja unzählige Video-Interviews mit Scouts führen. Das hat er überragend gemacht. Oft dachte ich mir: Wahnsinn – wenn ich das an seiner Stelle machen müsste … Dadurch wird er aber auch reifer und erfahrener.

Bei der WM trifft Deutschland in Gruppe B auf Kanada und die USA. Kleines Gedankenspiel mit Trainer Reichel: Wären alle deutschen Stars dabei – also auch Draisaitl, Kahun, Stützle, Grubauer aus der NHL –, wäre Deutschland dann für Sie ein Anwärter auf Gold?
Das ist reine Spekulation. Es käme ja auch auf die Tagesform an. Tatsächlich haben sich in den letzten Jahren sehr viele gute Spieler in Deutschland entwickelt, die nun auch in der NHL mithalten können. Doch auch in Deutschland gibt es weiterhin gute Spieler.

Wer wird Weltmeister?
[lacht] Das hängt sicher auch davon ab, wer aus der NHL welche Mannschaft verstärkt. Ich tippe auf die üblichen, also Kanada, Schweden. Und Tschechien – warum nicht?!

Und die Deutschen überstehen die Vorrunde?
Davon gehe ich aus. Sie werden eine gute Truppe aufbieten, auch jeder rund um Bundestrainer Söderholm macht einen tollen Job. Es muss daher das Ziel sein, im Viertelfinale zu spielen. Dann geht es um ein einziges Spiel, wie die Spieler sagen. Dazu musst du bereit sein, eine gute Form haben – gewinnen. Dann kann alles passieren.

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