Warum Tschechien das atheistischste Land in Europa ist
10. 10. 2012 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Karlsuniversität Prag, Kunstarchiv
Wie unpopulär die Pläne eines staatlichen Ausgleichs mit den Kirchen in Tschechien sind, zeigt eine Umfrage vom Dezember vergangenen Jahres. Dabei sprachen sich 69 Prozent der Tschechen dagegen aus, der Kirche ihr Eigentum zurückzuerstatten. Nur 8 Prozent stimmten solchen Plänen voll zu. Ein tiefes Misstrauen gegenüber Religion und Kirche prägt die tschechische Gesellschaft. 70 Prozent der tschechischen Bevölkerung bekennen sich zu keiner Religionsgemeinschaft. Damit ist Tschechien das Land in Europa, in dem die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten ist.
Mit der antireligiösen Propaganda aus der Zeit des Kommunismus kann man diese Einstellung allein nicht erklären. Dagegen spricht schon der Vergleich mit anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Vielmehr konnten die Kommunisten an eine bereits vorhandene antiklerikale Einstellung der Tschechen anknüpfen, weshalb Moskau auch die Tschechoslowakei als das Land auswählte, in dem die intensivste antireligiöse Propaganda entfaltet werden sollte, um hier die Idee von einer völlig religionslosen Gesellschaft zu realisieren.
Historiker und Soziologen weisen darauf hin, dass die Wurzeln der Ablehnung gegenüber den Kirchen tief in die Geschichte zurückreichen. Schon die gewaltsam durchgeführte Gegenreformation in Böhmen und Mähren nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 richtete sich gegen eine Bevölkerung, die sich überwiegend zum Protestantismus bekannte. Im Bewusstsein vieler Tschechen beginnt mit der Niederlage der protestantischen Stände zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges und der Hinrichtung von 28 protestantischen Heerführern und Adeligen auf dem Altstädter Ring sowie der Emigration vieler Protestanten, unter ihnen Jan Amos Komenský, und den Bücherverbrennungen die „Zeit der Finsternis“, die für sie bis zum Ende des katholisch-habsburgischen Regimes 1918 andauerte.
Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwachende tschechische Nationalismus hat das Bild einer habsburgisch-katholischen Fremdherrschaft über Böhmen und Mähren wesentlich mitbestimmt. Mit wenigen Ausnahmen waren die Führer des tschechischen Nationalismus von einer antikatholischen Parteinahme geprägt. In der katholischen Kirche sahen sie nur den verlängerten Arm der Habsburger Fremdherrschaft. Böhmens bedeutendster Historiker František Palacký hat nachhaltig das Bewusstsein der Tschechen mit seinem Geschichtsbild beeinflusst, in dem er die Epoche der Hussiten zur Blütezeit der tschechischen Geschichte erhob. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Reformator Jan Hus zu einem Nationalhelden der tschechischen Nation erklärt wurde.
Der Versuch der katholischen Kirche, den Märtyrer Johannes Nepomuk zum Nationalheiligen zu küren, war nur teilweise erfolgreich. 1922 wurde der 6. Juli, der Tag der Verbrennung des Jan Hus in Konstanz, zum Nationalfeiertag erklärt. Der Vatikan reagierte darauf mit einer dreijährigen Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zum tschechoslowakischen Staat.
Der erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik Tomáš G. Masaryk verkörperte die Abneigung der tschechischen Intellektuellen gegenüber der katholischen Kirche. Er konvertierte als junger Mann von der katholischen Kirche zur protestantischen Brüdergemeinde. In seinen Augen war die katholische Kirche eine rückwärtsgewandte und gegen den Fortschritt eingestellte Institution. Er berief sich auf die hussitischen Traditionen, als er als Präsident verkündigte: „Tábor ist unser Programm.“ Auf ihn geht die Aufnahme des hussitischen Spruches „Pravda vítězí“ („Die Wahrheit wird siegen“) in das Staatswappen und die Präsidentenfahne zurück.
Nach dem Wendejahr 1989 galt die Kirche in Tschechien im öffentlichen Bewusstsein als einer der wichtigsten Akteure in der oppositionellen Bewegung, die zur Novemberrevolution geführt hatte. Es kam zu einem kurzen Aufschwung, was die Bedeutung der Religion und der Kirchen betrifft. Doch die großen Erwartungen an die Kirchen, die viele Menschen im Blick auf eine Neugestaltung der Gesellschaft hegten, konnten nicht eingelöst werden. Schon bald setzten sich im öffentlichen Diskurs wieder die traditionellen antikirchlichen Vorurteile durch. Die gegenwärtige Debatte um die Restitution zeigt, dass antikirchliche Einstellungen wieder die tschechische Gesellschaft und Kultur prägen.
Siehe auch die Beiträge:
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