Wege und Wegweisungen
Roman Kopřiva beleuchtet mit seiner Dissertation die literarischen Beziehungen zwischen Jan Skácel und Reiner Kunze
6. 8. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Jan Skácel/Jef Kratochvil
„Es ist so leicht, den Weg zu uns zu finden“ – diesen Vers schrieb Jan Skácel während des Kalten Krieges, als in der Tschechoslowakei kein Ende der bleiernen Zeit einer sogenannten „Normalisierung“ abzusehen war. Doch so leicht war es gar nicht, diesen Weg zu finden. Zu sehr war das Land abgeschottet, von mentalen Barrieren beiderseits der geographischen Grenzen ganz zu schweigen.
In der Tat aber hatte der junge DDR-Schriftsteller Reiner Kunze den Weg zur tschechischen Poesie gefunden. Aufgrund eines im Radio gelesenen Gedichtes hatte seine zukünftige Ehefrau Elisabeth aus Ústí nad Labem (Aussig) den Kontakt zu dem Schriftsteller gesucht und ihn in der folgenden Zeit mit der tschechischen Dichtung vertraut gemacht. Für Kunze tat sich eine neue Welt auf. Die Bildkraft dieser Poesie, die ihm bisher verschlossen war, eröffnete ihm völlig neue Zugänge zu einer künstlerischen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sehr bald begann Kunze, Lyrik aus dem Tschechischen in das Deutsche zu übertragen. Die Gedichte von Jan Skácel (1922–1989) beeindruckten ihn derart, dass er unter anderem die beiden Auswahlbände „Fährgeld für Charon“ (1967) und „Wundklee“ (1982) zusammengestellt und übersetzt hat. Über viele Jahre hinweg pflegte Kunze bei seinen Lesungen immer auch Gedichte von Skácel vorzutragen, um dieser Stimme aus Mähren einen Raum zu geben.
Der in Brünn lehrende Literaturwissenschaftler Roman Kopřiva hat sich in seiner Dissertation „Internationalismus der Dichter“ mit der längst überfälligen Analyse einer literarischen Wechselbeziehung zwischen Jan Skácel und Reiner Kunze beschäftigt. Als Philologe widmet er sich dabei besonders einer Analyse der sprachlichen und motivischen Tiefendimension in der Lyrik Skácels.
Entstanden ist eine äußerst umfangreiche Untersuchung, die durch eine geradezu atemberaubende Fülle an zusammengetragenen Informationen beeindruckt. Dabei lässt sich kaum verkennen, dass der Forschungsansatz Kopřivas in der Tradition tschechischer Strukturalisten wie Miroslav Červenka, Jan Mukařovský, Oleg Sus oder Felix Vodička angesiedelt ist.
Zwei großen Themenbereichen schenkt Kopřiva besondere Aufmerksamkeit: Zum einen untersucht er den Komplex der „Lautung“, in dem er die Vielfalt der Reimstrukturen in Skácels Lyrik an konkreten Beispielen darstellt und auswertet. Im Gegensatz etwa zu dem Dichter Georg Trakl, den Kopřiva als „schauenden“ Lyriker bezeichnet, charakterisiert er Skácel als einen „tönenden“ Schriftsteller.
Im zweiten Themenbereich untersucht Kopřiva „Pflanzennamen im Gedicht“. Auf diese Weise gelingt es ihm, einen Zugang zur geheimnisvollen Semantik sprechender Namen zu schaffen. Mittels minutiöser Belege auf hohem philologischem Niveau deckt er dabei verschüttete Bedeutungen auf, untersucht abweichende Dialekte und weist auf poetische Funktionen hin.
Durchgehend widmet sich Kopřiva den Verfahren und Strategien Reiner Kunzes, diesen gewaltigen Herausforderungen in seinen Übersetzungen gerecht zu werden. Eine abschließende Untersuchung bezüglich der „Grenzen des Übersetzbaren“ fällt angesichts der Fülle der gesamten Studie vergleichsweise kurz aus.
Am Ende des Bandes deutet Kopřiva in dem Exkurs „Skácel und die phänomenologische Reflexion“ noch eine reizvolle Querverbindung an, zumal nachgewiesen ist, dass Skácel Vorlesungen des bedeutenden tschechischen Philosophen Jan Patočka besuchte. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis rundet diese Studie ab.
Roman Kopřiva hat mit dieser literaturwissenschaftlichen Untersuchung einen bedeutenden und zugleich hoch differenzierten Bestandteil deutsch-tschechischer Literaturvergleiche vorgelegt.
alles schmerzt sich einmal durch bis auf den eignen grund
und die angst vergeht
schön die scheune die nach längst vergangnen ernten
leer am wegrand steht
(Aus: Jan Skácel „Wundklee“, übersetzt von Reiner Kunze)
Roman Kopřiva: „Internationa-lismus der Dichter. Einblicke in Reiner Kunzes und Jan Skácels literarische Wechselbeziehungen.“ Thelem Verlag, Dresden 2013, 388 Seiten, 59 Euro, ISBN 978-3-942411-90-5
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?