Wenn nicht jetzt, dann am Sonntag

Wenn nicht jetzt, dann am Sonntag

Mit fünf Tagen Verspätung erobern sich Tschechiens Studenten den 17. November zurück

24. 11. 2015 - Text: Jan NechanickýText und Foto: Jan Nechanický

Es ist ein kalter Novembersonntag, halb drei in Prag. Die Straßenbahn, die den Berg vom Karlsplatz zum Botanischen Garten herunterfährt und sich langsam zum alten Universitätsgelände hinbewegt, ist überfüllt. An der Haltestelle Albertov leert sich die Straßenbahn. Menschen bewegen sich in kleineren Gruppen auf die gleichnamige breite Straße zwischen den Gebäuden der Naturwissenschaftlichen Fakultät zu. An ihrem Ende steht eine kleine Bühne. Viele Journalisten sind auf dem Weg dorthin, eine Gruppe vom Tschechischen Fernsehen stellt ihre Kameras auf und richtet sie zum Podium. Langsam füllt sich die Straße, bis man von der Bühne nicht mehr sieht, wo die Menschenschar ein Ende hat.

Vor 26 Jahren wurde auf dem Campus Geschichte geschrieben. Heute erinnert daran eine kleine Plakette an der Ecke des Hauptgebäudes der Fakultät. Und die Blumen, die unter der sonst leicht zu übersehenden Tafel am Boden liegen. „Kdy – když ne teď? Kdo – když ne my?“ („Wann – wenn nicht jetzt? Wer – wenn nicht wir?“), steht dort geschrieben, darunter ein Datum, 17. November 1989. Den Spruch riefen vor 26 Jahren die Prager Studenten, als die „Samtene Revolution“ an diesem Ort begann. Jetzt kommen immer mehr Menschen und legen Blumen unter die Plakette oder zünden Kerzen an, darunter auch Politiker wie Miroslav Kalousek (TOP 09).

Die Atmosphäre ist feierlich, auch wenn der Feiertag fast eine Woche zurückliegt. Der 17. November wird in Tschechien seit mehreren Jahren für Versammlungen genutzt, von denen viele mit den Ideen der Studentenbewegung von 1989 nur sehr entfernt etwas gemeinsam haben. Auf dem Prager Campus stand er diesmal im Zeichen von Flüchtlingskrise und Islamfeindlichkeit. Neben Martin Konvička, dem Anführer der größten islamfeindlichen Bewegung in Tschechien, trat auch Präsident Miloš Zeman auf die Bühne und erklärte, weshalb Islamfeindlichkeit und Xenophobie seiner Meinung nach nicht dasselbe seien. Studenten und andere, die mit den Positionen von Zeman oder Konvička nicht einverstanden sind, wurden ausgesperrt, das Gelände von der Polizei abgeriegelt.

Würdevolle Erinnerung
Fünf Tage später wollen die Studenten den Feiertag noch einmal, diesmal „mit Würde und Pietät“ begehen. Es soll sich jedoch um keine Demonstration gegen den Präsidenten handeln, der den Gedenkort am Dienstag für sich in Anspruch genommen hat. Alle Organisatoren haben sich öffentlich dagegen ausgesprochen, das Treffen in diesem Sinn zu interpretieren. „Wir streben lediglich eine würdevolle Erinnerung an den 17. November an und an die Werte, die damit verbunden sind. Die Aktion ist kein Vorwand, die gegenwärtige politische Situation oder die Standpunkte unserer Staatsmänner zu kommentieren“, erklärt Jiří Feryna vom Organisationsteam.

Und tatsächlich fällt der Name Zeman während der gesamten Veranstaltung nicht ein einziges Mal. Auch die Namen anderer Politiker oder Parteien werden gemieden. Trotzdem ist der Bezug zur aktuellen Politik in jeder Rede zu spüren. „Wir sollten immer im Kopf behalten, dass das, was die Tradition am Leben hält, nicht das bloße Ritual ist. Vielleicht sollten wir uns bei den unbenannten Verursachern dieser Situation bedanken, in Konfrontation mit ihrem skandalösen Handeln ist nun nämlich klar, dass ,Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie‘ nicht nur eine Parole ist“, erklärt die Studentenvertreterin Marta Harasimowitz. Einige Teilnehmer in der Menge werden deutlicher: „Wenn der 17. November dieses Jahres nicht so gelaufen wäre, dann wären heute bestimmt nicht so viele Leute gekommen. Es ist unnötig so zu tun, als ginge es hier nicht um unseren Präsidenten“, meint ein 40-jähriger Weinhändler.

Das Treffen bleibt ruhig. Am Anfang erklingt die Studentenhymne „Gaudeamus igitur“, danach werden Reden gehalten. Vertreter aller großen tschechischen Universitäten melden sich zu Wort, neben ihnen auch zwei Studentenvertreter. 15 Hochschulrektoren sind gekommen, Universitätsfunktionäre aus allen Teilen des Landes sind da, aus Brünn, České Budějovice, Ostrava, Olomouc und Prag. Auch Studenten sind aus anderen Städten angereist. „Einige von uns haben am 17. November in Brünn an dem Laternenumzug teilgenommen. Als wir dann gesehen haben, wie traurig es in Prag abgelaufen ist, haben wir uns entschieden, den Feiertag so zu würdigen, wie es sich gehört“, erklärt eine Studentengruppe von der Brünner Masaryk-Universität.

Insgesamt bemühen sich die Redner, ihre Kritik nicht an eine konkrete Person zu richten, sondern allgemein zu bleiben und eher an die Ereignisse vor 26 Jahren als an die von letzter Woche zu erinnern. Sowohl die Rektoren als auch die Studenten verweisen darauf, dass Werte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder gesellschaftliches Engagement universal seien.

Nach Angaben der Organisatoren nehmen etwa 5.000 Menschen an der Veranstaltung teil, die Polizei spricht später von 2.000. In der Masse findet man überwiegend jüngere Menschen, aber auch einige Familien mit Kindern und ältere Leute. „Es ist gut, die eigene Meinung nicht nur dadurch zu vertreten, wie man im Alltag handelt, sondern auch dadurch, dass sich Menschen im öffentlichen Raum treffen und deutlich machen, dass sie zu Werten wie Freiheit stehen und bereit sind, dafür einzutreten. Und wir spüren, dass heutzutage dieser Grundwert wieder bedroht wird“, sagt ein 58-jähriger Biologe.

Am Ende der Versammlung wird an die Opfer der vergangenen Regime und an die Opfer der jüngsten Terroranschläge mit einer Schweigeminute erinnert, danach erklingt spontan die tschechische Nationalhymne. Nach etwa einer Stunde zerstreut sich die Menschenmenge langsam, an einigen Ecken wird noch diskutiert, noch immer werden Kerzen angezündet. Es sieht aus, als hätten sich die Studenten an diesem Sonntag ihren „gestohlenen“ Feiertag zurückerobert.