Wo atmen krank macht
In Ostrava kämpfen Menschen für etwas, was andernorts normal ist: frische Luft
30. 1. 2013 - Text: Christian RühmkorfText: Christian Rühmkorf; Foto: ctk
Im Klassenzimmer summt und brummt es wie ein Dieselgenerator. Es ist laut. Dafür sind die Kinder still. Sie können auch gar nicht anders. Denn in ihre Münder strömt aus einer Tülle unentwegt lauwarme, salzig schmeckende Luft. Sie inhalieren. Friedlich, unaufgeregt und der Prozedur ergeben sitzen die Drittklässler da. Jeder vor seinem Inhalator. Wie in einem Sanatorium. Es ist aber keine Heilanstalt, in der sie jeweils zu viert um einen Tisch sitzen, es ist eine Grundschule mit angeschlossenem Kindergarten ganz im Osten der Tschechischen Republik, in Ostrava.
Ostrava, zu Deutsch Ostrau, der schwarze Stern von Mährisch-Schlesien, ist eine Industriemetropole. Hier wird Kohle nicht nur abgebaut, sondern auch gleich verheizt – zum Beispiel im Stahlwerk ArcelorMittal. Ostrava ist die drittgrößte Stadt Tschechiens und ihre Luft eine der schmutzigsten in Europa. Zur „Hochsaison“ atmen hier rund 300.000 Lungen bis zu zehn Mal mehr Feinstaub ein als anderswo in Tschechien.
„Das ist wirklich heftig“, sagt Dana Koutová, die Leiterin des Kindergartens. Jedes Jahr das Gleiche: Vor allem im Herbst und im Winter legt sich der Smog über Ostrava und Umgebung als wolle er die Stadt ersticken. Und die unzähligen Industrieschlote füttern unablässig nach. Das Tschechische Hydrometeorologische Institut gibt dann regelmäßig seine Warnungen heraus: „Die Bürger werden gebeten, die Fenster geschlossen zu halten. Ältere und kranke Menschen sollten ihre Wohnung nicht verlassen.“ Es ist beinahe schon jahreszeitliche Folklore.
Die Inversionswetterlage sorgt dafür, dass die Menschen in Ostrava für Tage, ja sogar Wochen in einer abgeschlossenen Kaltluftblase leben und den Dreck ihrer Stadt einatmen. Im Prinzip ist Ostrava eine geschlossene Fahrgastzelle, in die ein Schlauch die eigenen Abgase leitet. Die Verschmutzung – vor allem die Feinstaubwerte – liegen dann regelmäßig ein Vielfaches über dem erlaubten Limit von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft.
„Wir haben uns schon daran gewöhnt und eine Art Immunität dagegen aufgebaut“, erklärt Koutová. Die Kinder hätten kaum mit Grippewellen zu kämpfen. Irgendetwas trügen sie in sich, was sie schütze. 2002 hat sie ein spezielles Gesundheitsprogramm entwickelt. Gemeinsam mit den Eltern sucht sie die Kinder aus, die besonders oft unter Asthma und anderen Atemwegserkrankungen leiden. Von Oktober bis Juni wird regelmäßig inhaliert. Im Winter kommt sogar jedes Kind an die Reihe. Täglich 15 Minuten. Zudem sprühen sich die Kinder drei Mal wöchentlich Mineralwasser in die Nase, um die Schleimhäute feucht zu halten. Im Winter sind Ausflüge und Spaziergänge gestrichen, die Fenster geschlossen. „Aber über längere Zeit gesehen wird das mit uns kein gutes Ende nehmen“, so Kindergartenleiterin Koutová. Ob sie Angst habe? Ja.
Genmanipulierte Einwohner
In Ostrava gibt es eine Menge Menschen, die etwas ändern wollen. Einer von denen, die das Heft in die eigene Hand genommen haben, ist der Personalmanager Jan Kozina. Mit seiner Organisation „Čisté nebe“ („Sauberer Himmel“) wolle er die Leute wachrütteln. Er fährt mit den Fingern über sein Smartphone und zeigt auf eine Skala. Eine Nadel pendelt zwischen Grün und Rot und bleibt schließlich auf Gelb-Orange stehen. „Hier kann man ablesen, wie hoch die Feinstaubbelastung in dem Stadtteil ist, in dem man sich gerade aufhält“, erklärt Kozina. Wenn Limits überschritten werden, trudelt automatisch eine Warn-Mail ein.
„Smog-Alarm“ heißt die App. Ihre Entwicklung ist eine von vielen Aktivitäten, die „Čisté nebe“ initiiert, um Menschen aus der Passivität zu holen. Für Jan Kozina ist die Industrie einer der größten Verschmutzer, sicher. Aber was außerdem die einzelnen Haushalte in ihren Einfamilienhäusern mit veralteten Heizkesseln in die Luft jagen, das sei jenseits von Gut und Böse: Abfälle, Joghurtbecher, Plastikflaschen. Dank niedriger Verbrennungstemperaturen eine Chemiebombe, so Kozina. Dass sie ihre Umwelt und sich selbst vergifteten, das kapierten sie entweder nicht oder es sei ihnen egal. „Solchen Leuten ist man einfach ausgeliefert.“ Der Druck auf sie und die Industrie müsste wesentlich größer sein, meint Kozina.
Dozent Radim Šrám von der Akademie der Wissenschaften hat vor drei Jahren untersucht, welche Auswirkungen die Luftverschmutzung in Ostrava auf den menschlichen Organismus hat. Zutage traten sogar genetische Veränderungen, hervorgerufen durch die extreme und dauerhafte Schadstoffeinwirkung. Der stellvertretende Oberbürgermeister Dalibor Madej, der das Umweltressort im Magistrat leitet, sei damals wegen Rufschädigung mit Rechtsanwälten gegen Dr. Šrám vorgegangen. „Das hat mich umgehauen“, erinnert sich Jan Kozina. Das Umweltamt müsse doch dankbar sein für die Diagnose. Für Jan Kozina war das der Impuls, sich zu engagieren.
Ostrava-Radvanice. Hier, im Schatten des Stahlgiganten ArcelorMittal, hat die Kinderärztin – und mittlerweile auch Stadträtin – Eva Schallerová ihre Praxis. Es waren ihre Beobachtungen an den kleinen Patienten, die damals für die Akademie der Wissenschaften den Ausschlag gaben, um Ostrava unter die Lupe zu nehmen. „Hier hat das menschliche Leben keine besondere Bedeutung, meine ich. Was das betrifft, leben wir hier noch in einer anderen Welt“, sagt die Kinderärztin.
Die schlechteste Zeit, hier gezeugt zu werden, sei Ende November, Anfang Dezember. Denn dann erlebe die Frau das erste Vierteljahr ihrer Schwangerschaft in der schlimmsten Phase der Luftverschmutzung. Im Herbst das schummrige Licht der Ostrauer Welt zu erblicken, ist für Kinder nicht besser. „Es kommt häufiger vor, dass der Säugling während seines ersten Winters auf Erden mehrere Bronchialinfekte oder sogar Lungenentzündungen durchmacht“, erklärt Schallerová. Dann kämen die chronischen Erkrankungen – Allergien und Asthma. Am Ende dieser Krankheitsgeschichte stünden bei manchen Erwachsenen Herzerkrankungen.
Welchen politischen Schritt sie als erstes veranlassen würde, wenn die Entscheidung bei ihr läge, kann die Kinderärztin und fraktionslose Stadträtin auch nicht sagen. Das Problem sei umfassend. Klar sei ihrer Ansicht nach nur eines: Die Industrie, der Magistrat, Umweltministerium und Gesundheitsministerium hätten kaum Interesse an einer Lösung. Das habe spätestens der Umgang mit der Šrám-Studie gezeigt. „Das schrecklichste Paradox meines Lebens ist: Wenn ich pfuschen würde“, sagt Schallerová, „wenn die Kinder hier reihenweise sterben würden, dann würde ein enormer Druck entstehen.“
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