Woandershin

Woandershin

Documenta-Künstlerin Kateřina Šedá rekonstruiert eine Kleinstadt in Leipzig

5. 12. 2013 - Text: Ina VolkhardtText: Ina Volkhardt; Foto: Daniel Konrad

 

Lebensgroße Rehe äsen auf den Fensterscheiben, gepflegte Reihenhäuser formieren eine gleichförmige Einheit an der Wand, auf dem Fußboden zeichnet sich ein Straßengeflecht ab: Das Projekt „at sixes and sevens“ (etwa: „von links nach schräg“) der Künstlerin Kateřina Šedá bricht mit herkömmlichen Ausstellungsprinzipien. Gemeinsam mit sechs Jugendlichen aus der südmährischen Gemeinde Zastávka hat Šedá, die bereits 2007 auf der documenta mitwirkte, in Leipzig eine interaktive Modellstadt geschaffen. Entstanden ist ein ungewöhnliches begehbares Labyrinth in der Galerie für Zeitgenössische Kunst. „Es ist wirklich etwas Einzigartiges, was die Künstlerin hier bei uns umgesetzt hat“, kommentiert Heidi Stecker von der Galerie, „das beeindruckt viele“.

Stadt ohne Zentrum
Wer Zastávka, eine rund 2.500 Einwohner zählende Ortschaft in der Nähe von Brünn, besucht, trifft auf ein trostloses Bild. Weder eine nennenswerte Historie noch eine positive Wahrnehmung seitens ihrer Bürger machen die Landstadt zu einem attraktiven Ort, mit dem man sich identifiziert. Sogar ein Zentrum fehlt. Um dies zu ändern, nahm ein 14-jähriger Schüler aus Zastávka vor zwei Jahren Kontakt mit Šedá auf. Zusammen mit fünf weiteren Jugendlichen begannen sie ihre Feldforschungen und befragten zunächst die Einwohner, wo sie auf einem Stadtplan das Zentrum verorten würden. „Von den Befragten bekamen wir jedoch 50 verschiedene Antworten!“, zitiert der Ausstellungsführer Šedá. Auf die Frage, was den Bewohnern an ihrer Stadt am besten gefalle, nannten die meisten die gute Verkehrsanbindung, also die Möglichkeit, „woanders hin“ zu gelangen. Weiterhin fiel der Gruppe auf, wie distanziert sich die Bewohner zueinander verhalten, sich eher als Fremde als langjährig Ansässige verhielten. Zastávka, ohne Zentrum und perspektivische Ausrichtung, scheint Modellcharakter zu haben. Leicht lässt sich das Konzept auf andere Orte oder Stadtteile übertragen.

Von Brünn nach Leipzig
Höhepunkt des Projekts bildet nun die Ausstellung in Leipzig. „Unsere Kuratorin Julia Schäfer hegt schon seit einiger Zeit den Wunsch, mit der Künstlerin zusammenzuarbeiten“, berichtet Stecker. Nach einer Einladung überzeugte sich Šedá schnell davon, dass die Galerie der geeignete Ort ist, an dem sie Teile ihrer Arbeit präsentieren kann. Bereits zwei Monate später entstand „at sixes and sevens“. Einen Schwerpunkt sollte dabei die langjährige Arbeit von Zastávka bilden, jedoch ohne nur dokumentarischen Charakter zu haben. So reiste Šedá mit den Jugendlichen nach Leipzig. Voller Enthusiasmus gestalteten sie hier in nur einer Woche die insgesamt 49 Wände der Galerie. Und schufen damit etwas völlig Neues.

Anfassen ausdrücklich erlaubt
„Herrlich unverkrampft“ findet Schäfer die Konzeptkünstlerin. Ihre Lockerheit spiegelt sich auch im Ergebnis wider: Die Exposition macht weder vor Böden, Decken und Wänden halt, noch vor dem Glas der Außenfenster. Sogar der Rasen, der das Gebäude umgibt, wurde einbezogen – ein Schild verweist dort auf zwei weitere, sich in der Nähe von Zastávka befindende Orte.

Die Konzeption, die mit den Grenzen des Raumes spielt, zwingt den Besucher zum Bruch mit seinen Wahrnehmungs­gewohnheiten. Der moderne Bau der Leipziger Galerie eignet sich hervorragend für dieses dreidimensionale Verwirrspiel. Um sich in der verschlungen Welt zurechtzufinden, erhält der Besucher am Eingang einen „Stadtplan“, mit dessen Hilfe er sich orientiert. Beim Spaziergang durch die kulissengleichen Flächen wird deutlich, dass es sich nicht um eine Nachbildung Zastávkas handeln soll, der Plan nur grobe Anhaltspunkte bietet. Die verschiebbaren Wände dürfen und sollen bewegt und damit Blickachsen immer wieder variiert werden.

Durch die Übertragung der dreidimensionalen Stadt auf zweidimensionale Flächen ergeben sich ständig neue Perspektiven. Ebenso spiegeln die Größenverhältnisse eher subjektive Eindrücke wieder, wenn beispielsweise ein lebensgroßes Automobil die Miniaturbilder von Straßen und Häusern kontrastiert. Die Zastávka-Kopie fordert auf, gesehen und verändert zu werden. Artefakte von Šedás früheren Arbeiten fügen sich spielerisch in die Konstruktion ein. Der ständige Rückbezug auf die räumlichen Gegebenheiten der Galerie sowie der interaktive Charakter zeichnen die Ausstellung aus.

Partizipative Kunst
Inspiration findet Šedá, die ihre Arbeit gar nicht als Kunst bezeichnet, sondern einfach nur „echte Veränderung bewirken“ will, meist in ihrer unmittelbaren Umgebung. Ihre Projekte versteht die gebürtige Brünnerin denn auch stets als partizipativ. Dass die Übertragung der komplexen, oft langjährigen Arbeiten auf Ausstellungskonzepte funktioniert, beweist ihr Experiment „at sixes and sevens“. Dieses findet bei den Besuchern, so Stecker, überwiegend positiven Anklang. Das Publikum sei zudem auffallend international. Sogar der Bürgermeister von Zastávka will dem Städtedouble einen Besuch abstatten. Besonders dürfte sich Šedá über die Wirkung auf eine Leipziger Schulklasse freuen. Diese zeigte sich so begeistert, dass sie sich nun mittels eines eigenen Projekts mit ihrem Stadtteil, dem eher unscheinbaren Leipzig-Mölkau, auseinandersetzen will. Denn Zastávka kann überall sein.

Galerie für Zeitgenössische Kunst GFZK, Karl-Tauchnitz-Straße 9-11, Leipzig; geöffnet: Di.-Fr. 14–19 Uhr; Sa./So. 12–18 Uhr; Eintritt: 5 Euro (ermäßigt 3 Euro); www.gfzk-leipzig.de