Zehn Stunden Gauck
Bei seinem Antrittsbesuch in Tschechien erinnert der deutsche Bundespräsident an vergangene Verbrechen und gemeinsame Verantwortung
17. 10. 2012 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: čtk
Mit seinem Antrittsbesuch in Tschechien am Mittwoch vergangener Woche wollte Deutschlands Bundespräsident Joachim Gauck die Versöhnung beider Völker vorantreiben und klarstellen, was für ein Glück das heutige Europa für Deutsche und Tschechen darstellt. In Erinnerung bleiben wird jedoch der Besuch der Gedenkstätte Lidice, die nach den Worten des Bundespräsidenten symbolisch für die Gräueltaten der nationalsozialistischen Besatzungszeit steht. So besuchte Gauck als erstes deutsches Staatsoberhaupt überhaupt diesen Ort, an dem im Juni 1942 mehr als 170 Tschechen der Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich zum Opfer gefallen waren. Gauck wollte seinen „Respekt für die Opfer des Nationalsozialismus“ zum Ausdruck bringen und gleichzeitig „die mutigen Tschechen ehren, die Widerstand gegen die brutale Unterdrückung einer Diktatur geleistet haben“. Zur Vertreibung der Sudetendeutschen wollte sich Deutschlands Staatspräsident nicht äußern; dieses Thema könne warten.
9.25 Uhr: Ankunft in Prag
10.30 Uhr: Gespräche mit Klaus
Mit militärischen Ehren war Gauck um Punkt 10 Uhr von seinem Amtskollegen Václav Klaus begrüßt worden. Dass es zwischen ihnen erhebliche Differenzen in europapolitischen Fragen gibt – Klaus steht mit der EU bekanntlich auf Kriegsfuß – daraus machten beide Staatsmänner keinen Hehl. So warnte Klaus dann auch beim gemeinsamen Mittagessen vor einer „krampfhaften Flucht zu einem neuen europäischen Superstaat“. Zudem könne die gegenwärtige Schuldenkrise gewiss nicht mit dem Euro überwunden werden.
Gauck räumte zwar ein, dass „wir heute vor ernsten wirtschaftlichen und finanziellen Problemen stehen.“ Hier habe Europa nicht so funktioniert, wie man es erwartet habe und wie es notwendig gewesen wäre, um die Chancen der globalen Märkte zu nutzen. Doch „die Lösung unserer Probleme wird nur gelingen, wenn wir Europäer alle verantwortungsvoll handeln und uns alle den Aufgaben stellen. Die gemeinsame europäische Ordnung ernst zu nehmen und verbindlich durchzusetzen, darum muss es uns allen im europäischen Interesse gehen“, schloss Gauck seine Tischrede, die auch aus der Feder von Klaus’ Amtsvorgänger Václav Havel hätte stammen können. Aber solche direkten Worte gegenüber EU-Kritiker Klaus? Es musste recht paradox angemutet haben, als Gauck sein Glas erhob, um einerseits auf das „Wohl von Präsident Klaus und seiner Gattin“, andererseits „auf das große Glück, das es bedeutet, in diesen Zeiten ein Europäer zu sein“ anzustoßen.
Wer vor dem Hintergrund solch gegensätzlicher Standpunkte schlechte Stimmung oder gar Streit vermutet, der irrt. Denn der Respekt voreinander sei so groß, „dass wir gar nicht auf die Idee gekommen sind, uns gegenseitig zu überreden“, beteuerte Klaus. Und für den Bundespräsidenten sind die Gegensätze selbsterklärend: „Ein evangelischer Theologe hat von Natur aus eine ganz andere Sicht auf manche Dinge als ein Wirtschaftsprofessor.“ Vielleicht sei er naiver als Klaus, „doch Naivität kann auch Kräfte freisetzen und Hoffnung wecken.“
14.00 Uhr: Marathon auf der Kleinseite
Nach den Gesprächen mit Klaus sah das Protokoll für den Mecklenburger drei Termine in 90 Minuten vor. Um 14 Uhr besichtigte Gauck zunächst mit dem Prager Erzbischof Dominik Kardinal Duka den Veitsdom. Viel Zeit blieb dafür nicht, denn bereits eine halbe Stunde später stand der Bundespräsident auf dem Balkon der Deutschen Botschaft, von dem aus im September 1989 der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu den DDR-Flüchtlingen sprach. Gegen 15.30 Uhr hörte er schließlich von Regierungschef Petr Nečas im Liechtenstein-Palais ganz andere Ansichten über Europa, als er sie noch am Vormittag von Präsident Klaus vernommen hatte. Es würde im Interesse beider Länder liegen, die verschuldete Eurozone zu stabilisieren, so Nečas. Der Premier zeigte auch Verständnis dafür, dass die Euro-Staaten ihre Haushaltspolitik stärker koordinieren wollen. Gauck würdigte, dass die tschechische Regierung in Finanzfragen eine Stabilitätspolitik verfolge, die „nah bei der deutschen Politik“ liege. In dieser Hinsicht stehe Tschechien „an der Seite der Bundeskanzlerin“.
17.00 Uhr: Gedenken in Lidice
Seite an Seite standen der deutsche und tschechische Staatspräsident am frühen Abend in der Gedenkstätte Lidice. Am Denkmal für die Kinder, die nach ihrer Deportation umgebracht wurden, legten die Präsidenten gemeinsam einen Kranz nieder – ein großer Moment in den Beziehungen beider Länder.
Nach dem Brief, den der Bundespräsident im Juni zum 70. Jahrestags des Massakers von Lidice an Klaus geschrieben und den dieser wiederum als „positive Geste“ gewürdigt hatte, setzte nun auch Tschechiens Staatsoberhaupt ein Zeichen. Gauck war sich dessen bewusst und zeigte sich dankbar, dass Klaus ihn bei diesem Besuch begleitet hatte. Seine im Juni geäußerte Hoffnung, „dass uns das gemeinsame Erinnern an die Ereignisse vor 70 Jahren noch weiter zusammenführt“, scheint sich erfüllt zu haben.
18.30 Uhr: Dissidenten am Flughafen
Der letzte Termin des Tages fand – nicht nur aus zeitlichen, auch aus symbolischen Gründen – auf dem Prager Flughafen statt. Gauck traf dort, so hatte er es sich ausdrücklich gewünscht, mit ehemaligen Dissidenten und Weggefährten Václav Havels zusammen. Erst wenige Tage zuvor war der Flughafen nach dem ehemaligen Präsidenten und Bürgerrechtler benannt worden.
Eine Stunde lang diskutierte der Bundespräsident unter anderem mit dem Mitbegründer des Bürgerforums und einstigen Regierungschef der ČSFR Petr Pithart, der Vorsitzenden der Bürgerbewegung „Ano pro Evropu“ („Ja zu Europa“) Monika MacDonagh-Pajerová, die sich im November 1989 als Studentenführerin während der Samtenen Revolution engagierte sowie Martin Palouš, den einstigen Sprecher der Charta 77.
Gemeinsam machten sie sich Gedanken um die Zukunft der Staatengemeinschaft, „weil es gerade jetzt wichtig ist, darüber zu sprechen“, sagte Palouš. Der Christdemokrat Pithart lud den ehemaligen Pastor schließlich dazu ein, einen Vortrag in der Prager Annenkirche (kostel sv. Anny) zu halten. Eine von Havel gegründete Stiftung betreibt dort das Projekt „Pražská křižovatka“ („Prager Kreuzung“), das den „Zustand unserer Zivilisation und die Gefahren, die sie bedrohen“, hinterfragen will. Gut möglich, dass Bundespräsident Gauck bei seinem nächsten Besuch genau dieser Einladung folgen wird.
19.40 Uhr: Abflug nach Berlin
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“