Zimmer mit Aussicht
Das Wohnheim in Strahov bietet Platz für mehr als 4.000 Studenten. Früher wurden dort die Teilnehmer der Spartakiaden untergebracht
11. 5. 2016 - Text: Philipp Schöner, Titelbild: Ondřej Koníček, CC BY-SA 3.0
Das Stadion in Strahov ist eines der größten der Welt. Früher jubelten dort mehr als 200.000 Menschen den Teilnehmern der Spartakiaden zu. Läuft man einmal um das marode Monument herum, kommt man dort vorbei, wo die Sportler bei den Großveranstaltungen untergebracht waren. Heute bilden die Plattenbauten eines der größten Studentenwohnheime der Stadt.
Am frühen Abend riecht es nach Grillkohle. Auf den Rasenflächen sitzen Menschen und essen, ein paar Frauen spielen Volleyball. Vor den Wohnblöcken stehen Stühle, schmale Bänke und Tische. Dort treffen sich die Raucher. Drinnen befindet sich in jedem Gebäude eine schmale Kabine – die Rezeption, die rund um die Uhr besetzt ist. Eine kleine Treppe führt in den Gang des ersten Stockwerks, der mit rund vier Metern ziemlich breit ausfällt. Jemand hängt dort gerade Socken auf, daneben sitzt ein Student auf einem Bierkasten und isst ein Butterbrot. Frauen in Leggins machen Dehnübungen – wohl weil in den Zimmern kein Platz dafür ist.
Die weiß lackierten Metalltüren erinnern mehr an ein Gefängnis als an ein Studentenwohnheim. Betritt man einen der Räume, blickt man auf T-Shirts, Notizzettel und Bücher. Ab und zu huschen Menschen in Morgenmänteln über den Flur. „Offiziell gibt es getrennte Bäder für Männern und Frauen, aber in der Praxis interessiert das keinen“, erklärt Matej Škerlik.
Der Slowake wohnt im fünften Stock des sechsten Wohnblocks. Vor knapp drei Jahren zog er aus Bratislava nach Prag. Seitdem lebt er in Strahov und studiert Physiktechnik. Es falle ihm manchmal schwer, sich tagsüber zu konzentrieren, „wenn in der Nacht zuvor 20 Spanier in der Küche Party gemacht haben“, sagt Matej. Ohrstöpsel zum Schlafen und zum Lernen gehören zu seiner Grundausstattung.
Matej hat es noch gut erwischt. In seinem Gang befinden sich nur zwei kleine Kochnischen, keine großen Küchen wie im zweiten, vierten und sechsten Stock. Da es sonst keine Gemeinschaftsräume für die knapp 300 Studenten pro Haus gibt, treffen sich die Bewohner meistens dort. Die Fenster sind fast immer beschlagen. Es riecht nach Bratfett und Rosenkohl. Schmutziges Geschirr, herumliegende Obstschalen und verschmierte Ablagen sind der Dauerzustand.
„Am schlimmsten sind die Bewohner, die Essensreste einfach in die Spüle kippen“, ärgert sich Matej. Deswegen halte er sich selten in den großen Küchen auf. „Ich mache mir höchstens mal Reis oder ein paar Nudeln.“ Meistens isst er mittags und abends in der Mensa direkt auf dem Gelände, neben den Wohnblöcken vier und acht. Dort frühstückt er auch, wenn er früher wach ist. Das Essen für 40 bis 80 Kronen findet der 21-Jährige „sehr lecker“.
Die Mensa in Strahov ist auch am Wochenende geöffnet. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Strahov auch samstags und sonntags gut ausgelastet ist. „In dem Wohnheim in Podolí zum Beispiel leben fast nur Tschechen. Die fahren am Wochenende immer nach Hause“, sagt Matej. Auch die Tschechen in Strahov seien fast alle nur unter der Woche da. „Freitagabend übernehmen hier die Spanier das Kommando“, lacht er. Ansonsten hielten sich an diesen Tagen hauptsächlich Slowaken, Russen und Asiaten auf dem Gelände auf.
„Wir wollen Licht“
Früher lebten in Strahov mehr tschechische Studenten. Allerdings mussten sie alle fünf Jahre Platz für mehrere Tausend Sportler machen. Während der tschechoslowakischen Spartakiaden dienten die Wohnheime als Unterkünfte für Athleten und Trainer – eine Herausforderung für die Infrastruktur der Gebäude, mit der es von Anfang an Schwierigkeiten gab. So fiel nahezu jeden Abend der Strom aus. Viele froren, weil die Heizungen nicht funktionierten. Die Studenten protestierten 1967 gegen die Zustände. „Wir wollen Licht“, riefen sie und marschierten durch die Stadt zur Burg. Dort hielten Polizisten sie auf und trieben sie gewaltsam zurück nach Strahov. Hunderte wurden verletzt. In der Folge kam es zu weiteren Protesten der Studenten. Sie forderten, die Vorkommnisse aufzuklären und drohten mit einem Aufstand, sollten ihre Bedingungen nicht erfüllt werden.
Matej hat davon gelesen. „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es damals war“, sagt er. Von Verwandten habe er gehört, dass damals viele in schlechten Unterkünften am Stadtrand auf Plätze im Wohnheim gewartet hätten. Heute gebe es solche Probleme nicht mehr. „Wenn man ein Zimmer möchte, dann bekommt man es auch“, so der Slowake. Tatsächlich ist die Anlage mit ihren gut 4.700 Betten nicht ausgelastet. 3.500 Studierende zählt die Wohnheimleitung im Moment.
Anders als in Deutschland teilen sich die meisten Studierenden in Tschechien ein Zimmer mit einem oder mehreren Kommilitonen. Auch in Strahov gibt es ausschließlich Mehrbettzimmer mit zwei bis zehn Betten. Dafür zahlt man hierzulande deutlich weniger. Ein Doppelzimmer in Strahov kostet umgerechnet rund 100 Euro pro Person im Monat.
Iveta Pelikánová lebt seit knapp fünf Jahren in Strahov. Die 23-Jährige teilt ihr Zimmer gern. „Es ist schön, jemanden zu haben, mit dem man über den Tag reden kann“, so die angehende Nuklearchemikerin. Sie hatte bereits mehrere Zimmergenossen und noch nie größere Konflikte. Deshalb sei ihr auch niemals der Gedanke gekommen, einen Antrag auf ein Einzelzimmer zu stellen. Das sei zwar möglich, werde aber nur selten genutzt, so die Wohnheimleitung.
Eine dieser Ausnahmen hat Matej erwirkt. Die zwei Betten in seinem Zimmer hat er vor den Fenstern zu einem großen zusammengeschoben. Umgerechnet 150 Euro zahlt er für ein paar Quadratmeter Privatsphäre. Das sei ihm der Komfort aber wert. „Und für die Lage ist es immer noch ein absoluter Spitzenpreis. Wir sind fast im Zentrum, außerdem fahren im Minutentakt Busse in die Stadt“, schwärmt Matej. Man könne auch in 20 Minuten zur Burg laufen und in einer halben Stunde zum Altstädter Ring.
Iveta dagegen schätzt vor allem das soziale Leben und die Atmosphäre. „Es gibt so viele Menschen hier, so viel Leben“ – ganz anders als in ihrem Heimatdorf Košíkov in der Region Vysočina. „Alle meine Freunde wohnen hier. Nach der Uni spiele ich zum Beispiel Fußball. Dafür gibt es sogar eine eigene Strahov-Liga. Außerdem könne man Musik in einem der Proberäume machen oder in eine der vielen Bars gehen, die es in den Kellern fast aller Wohnblöcke gibt.
Auch Vojtěch Vlk mag die Bars in Strahov. Er lebt seit sechs Jahren auf dem Gelände und ist begeistert von den Bedingungen. „Erst im vergangenen Jahr wurden die Fenster ausgetauscht und die Fassaden gedämmt“, so der 26-Jährige. Auch das Internet sei schnell und leicht bei der Studentenvereinigung Silicon Hill zu beantragen. Für ihn ist das Kapitel Strahov allerdings schon bald beendet, weil er sein Ingenieursstudium abgeschlossen hat. „Jetzt muss ich ausziehen“, bedauert der Budweiser. Er wird weiter ins Zentrum ziehen, in die Nähe der Moldau. Nach Strahov will er aber weiterhin zum Feiern kommen. Das kann er voraussichtlich auch noch lange. Man werde die Anlage „noch mindestens 50 weitere Jahre“ betreiben, verspricht die Wohnheimleitung.
Stadtführer in Not
Glückwunsch, Prag 4!