Zu stolz, um arm zu sein?
Laut Statistikamt hat sich der Anteil der in Tschechien lebenden Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, verringert. Und das trotz sinkenden Reallöhnen und geringem Wirtschaftswachstum
4. 6. 2014 - Text: Stefan WelzelText und Foto: Stefan Welzel
Der 40-jährige Radek Šustr* aus der mährischen Kleinstadt Vsetín sitzt schon etwas länger in der verrauchten Kneipe im Prager Stadtteil Žižkov. Vor allem am Wochenende lässt es der leicht untersetzte Mann mit dem kräftigen dunklen Haar hier gern mal „ein bisschen krachen“, wie er lächelnd und etwas angetrunken mitteilt. Weit laufen muss er dafür nicht, er wohnt gleich gegenüber, zusammen mit drei Freunden aus der Slowakei. Die Miete ist nicht hoch, jeweils zwei Mann teilen sich eines der beiden Zimmer. „Das ist zwar etwas umständlich, aber dafür spare ich viel Geld“, sagt Šustr, dessen Zahnreihen die eine oder andere Lücke aufweisen.
Šustr arbeitet unregelmäßig, je nach Auftragslage seines klammen Brötchengebers. Sein Lohn kommt selten pünktlich. Laut einer in der vergangenen Woche vorgestellten Studie des tschechischen Statistikamtes (ČSÚ) wird ein alleinstehender Erwachsener derzeit als arm beziehungsweise armutsgefährdet eingestuft, wenn sein Monatseinkommen weniger als 9.674 Kronen (rund 350 Euro) beträgt. Der Wert entspricht, so wird es europaweit definiert, 60 Prozent des national verfügbaren Medianeinkommens.
Šustr verdient meistens mehr, manchmal aber auch weniger. Ob er damit unter die Kategorie „arm“ falle? „Ich lebe natürlich nicht auf Rosen gebettet, aber arm bin ich nicht“, meint der Handwerker. Und ähnlich sehen es wohl viele, die mit erheblichen finanziellen Problemen zu kämpfen haben. Wenn ein Journalist Personen mit niedrigem Einkommen fragt, ob sie über ihre Probleme und über Armut sprechen wollen, winken die meisten ab. Entweder sind sie zu stolz oder ordnen sich selbst nicht dieser Gruppe zu.
Das subjektive Empfinden entscheidet mit, ob man sich arm wähnt oder nicht, zumindest in Europas relativ reicher geographischer Mitte. Und zu dieser zählt auch die Tschechische Republik. 8,6 Prozent der rund 10,5 Millionen Einwohner sind hier entsprechend dem EU-Standard von Armut bedroht. Das ist einer der niedrigsten Sätze Europas, im Jahr 2012 lag er noch um einen Punkt höher. In der EU konnte da nur Holland mit 10,1 Prozent mithalten. In Deutschland waren es 16,1, die Wohlstandsinsel Schweiz kam auf 15,9 Prozent. Der EU-Schnitt betrug 17 Prozent.
In harten Währungszahlen ausgedrückt liegt die monetäre Armutsgrenze in Tschechien für ein kinderloses Paar bei 14.512 Kronen, für eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind bei 12.577 Kronen. Für Eltern mit einem einzelnen Nachkommen im Jugendalter wurde der Betrag auf 22.251 Kronen festgelegt.
Weitere Armutsindikatoren sind der Mangel an materiellen Ressourcen und fehlende Erwerbsmöglichkeiten. Auch hier liegt Tschechien deutlich unter dem EU-Schnitt. Von mindestens einem der drei Faktoren betroffen waren im Jahr 2013 hierzulande 14,4 Prozent; 2012 waren es noch 15,1 Prozent. Vergleichszahlen aus Europa liegen bisher nur für das Jahr 2012 vor. Aber auch in dieser Statistik schneidet Tschechien überraschend gut ab. Denn der EU-Schnitt liegt hier bei 25 Prozent. Rund 125 Millionen Menschen leben in Europa in Armut oder sind davon bedroht. Am härtesten trifft es dabei Bulgarien und Rumänien mit 49,3 beziehungsweise 41,7 Prozent der Bevölkerung.
Tschechiens vergleichsweise stabiler Haushalt, geringe Staatsschulden sowie ein konservatives Verhalten in Sachen Geldanlagen minderten die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise. Ist Armut also ein unbedeutendes Thema in Böhmen und Mähren? Bestimmt nicht für Věra Doušová, die Vorsitzende der Prager Lebensmittelbank. Denn immer mehr Menschen würden die Hilfeleistungen ihrer gemeinnützigen Organisation in Anspruch nehmen, sagt sie im Gespräch mit der „Prager Zeitung“.
Radek Šustr kann sich nicht vorstellen, eine solche Hilfe anzunehmen. „Da esse ich lieber einfach ein paar Scheiben Brot.“ Der Ostmähre gehört zu den drei Prozent der sogenannten Working Poor, also denjenigen Erwerbstätigen, die trotz Arbeitsstelle in das Armutsdefinitions-Raster fallen – zumindest zeitweise. Unerwartete Auslagen wie ein Zahnarztbesuch oder ein längerer Urlaub sind für Šustr purer Luxus, der gelernte Automechaniker kann sich so etwas nicht leisten. Der Wodka in der Bar hat Vorrang.
Jaromír Kalmus, der Verantwortliche der Armutsstudie des Statistikamtes, erklärte bei der Präsentation der aktuellen Zahlen, dass 2013 rund 42 Prozent der Tschechen eine außerordentliche Auslage von mindestens 9.400 Kronen nicht stemmen konnten. Das sind zwar zwei Prozent weniger als noch im Vorjahr, dennoch relativiert diese hohe Zahl den insgesamt positiven Trend ein wenig. Eine Teilschuld trägt dabei auch die Tatsache, dass das durchschnittliche Nettoeinkommen seit 2005 zwar um fast ein Drittel angestiegen ist, der Reallohn seit 2009 aber stagnierte und zuletzt sogar sank. Der Teuerungsausgleich lag also zuletzt deutlich unter dem Preisanstieg.
Besonders heftig wirken sich unvorhergesehene Ausgaben bei Menschen aus, die in einer Negativspirale gefangen sind. So berichtet die Lebensmittelbank-Vorsitzende Doušová von einer verzweifelten jungen Mutter, die aufgrund einer schweren Krankheit ihres Kindes nicht mehr arbeiten gehen kann und ihr dadurch das Geld für eine Heilung fehlt. In solchen Fällen spiele auch eine gute Ausbildung keine Rolle mehr. Obwohl gerade diese oft ein wesentlicher Faktor dafür ist, nicht in Armut zu geraten.
Zu den sinkenden Zahlen der Armutsindikatoren passt hingegen eine andere vom Statistikamt veröffentlichte Zahl: Demnach sind 75 Prozent der Tschechen mit ihrem Leben weitestgehend zufrieden. Zu ihnen zählt sich auch Šustr, der sich gerade seinen dritten Schnaps bestellt hat.
* Name von der Redaktion geändert
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