Zuhause für eine Nacht

Zuhause  für eine Nacht

In Notunterkünften stellt die Stadt Prag derzeit 800 Schlafplätze für Obdachlose zur Verfügung. Ein Besuch im Industriegebiet von Hostivař

21. 1. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: P. Huch

Das Thermometer zeigt ein Grad unter Null. Die Männer an der Bushaltestelle tragen leichte Turnschuhe, die meisten haben Husten und Schnupfen. Gegen die Kälte bringt ein Jüngerer einen Tetrapack Rotwein. Das Restgeld wird aufgeteilt, das Getränk in eine Plastikflasche umgefüllt. Die Männer stehen in kleinen Grüppchen, sie grüßen sich, die meisten kennen sich, wenige unterhalten sich. Sie warten auf den Bus mit der Nummer 111, der sie von der U-Bahn-Station Skalka nach Hostivař bringt. Eine Linie wie viele andere, im 30-Minuten-Takt am Stadtrand entlang. Dennoch war es unnötig, sich vorher aufzuschreiben, welcher Bus am Abend zum Nachtquartier für Obdachlose fährt. Die Menschen, die sonst von anderen Fahrgästen komisch angeschaut werden, sind hier in der Überzahl.

20 Warte- und neun Fahrtminuten später kündigt die automatische Ansage an: „Nächster Halt: Továrny Hostivař.“ Ein älterer Mann mit schulterlangen Haaren und schwarzer Wollmütze nickt schweigend. Er sieht gepflegter aus als viele andere, ist gut rasiert und man meint, ein vorsichtiges Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. „Und schon sind wir zuhause“, sagt er mehr zu sich selbst als zu seinen Sitznachbarn. Doch die reagieren sofort, sie greifen nach ihren Stofftaschen und Plastiktüten, erheben sich von den Sitzen und rücken ihre Mützen zurecht. Der Fahrer bremst. „Továrny Hostivař“, erklingt noch einmal die Stimme. Die Haltestelle liegt nahe der Bahntrasse im Industriegebiet, etwa 13 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Türen öffnen sich. 40 bis 50 Männer und ein paar Frauen steigen aus, fast leer fährt der Bus weiter, während sich der Zug stumm in Bewegung setzt. Die Menschen überqueren den Zebrastreifen, die vorne gehen zielstrebig am Straßenrand entlang, die hinten laufen mit Krücken oder torkeln von links nach rechts, auf der Suche nach dem Gleichgewicht. Einer setzt immer wieder die Plastikflasche an, um die letzten Schlücke auszukosten.

Eine einzige Bedingung
Er müsste es nicht, denn in den Nachtquartieren für den Winter sind die Regeln weniger streng als in anderen Einrichtungen. „In den Unterkünften, die ganzjährig geöffnet sind, gilt ein Alkohol- und Drogenverbot“, erklärt Ludmila Tomešová, stellvertretende Leiterin des städtischen Sozialzentrums CSSP. In den Winterquartieren gebe es nur eine einzige Bedingung: „Die Menschen, die wir aufnehmen, dürfen keine Gefahr für die anderen darstellen. Aber wir kontrollieren sie weder auf Alkohol oder Drogen noch ihre Ausweise.“ Es geht darum, dass sie nicht auf der Straße schlafen, dass sie bei Minusgraden nicht erfrieren.

Das gilt auch für die städtische Unterkunft im Industriegebiet von Hostivař, die von der Caritas betrieben wird. Sie ist abgelegen wie die meisten Prager Notquartiere für Obdachlose. Sie sollen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein, aber niemanden stören, sagt Tomešová. Kein Stadtteil wolle eine solche Einrichtung haben oder ein Gebäude zur Verfügung stellen, deswegen miete der Magistrat sie meist von Privatpersonen oder Firmen.

In Hostivař befindet sich die Notunterkunft in einem zweistöckigen Kastenbau, der im Sommer als Wohnheim für Arbeiter dient. Vor der schmalen Eingangstür hat sich kurz vor 21 Uhr eine lange Warteschlange gebildet, eine stumme Menge, die langsam kleiner wird. Die Mitarbeiter der Caritas fragen jeden Ankommenden nach Namen, Geburtsdatum und Nationalität. „Das sind freiwillige Angaben, eher für unsere Statistik“, sagt Matouš Měšťánek, Leiter der Einrichtung. Sie ist seit gut einer Woche geöffnet, bisher wurden rund 600 Übernachtungen gezählt und 200 „Klienten“, wie Měšťánek und seine Kollegen die Gäste der Einrichtung nennen. Etwa die Hälfte komme regelmäßig, sagt der 25-Jährige, viele kenne er schon von seiner Arbeit als Streetworker.

Am Empfang stehen zwei Eimer mit heißem Tee und Plastikbecher zur Selbstbedienung, wer will, bekommt ein Stück trockenes Brot, ein Abendessen gibt es aber nicht. „Die Nachtquartiere sind laut Gesetz nur zum Schlafen und für die persönliche Hygiene da“, erläutert Tomešová. Für die Verpflegung seien andere Hilfsorganisationen zuständig, die die Klienten tagsüber aufsuchen können. Měšťánek und seine Mitarbeiter – sie sind meist zu zweit oder zu dritt in einer Einrichtung – weisen den Obdachlosen Betten zu. In Hostivař gibt es etwa 100 Plätze in Zimmern für drei bis acht Personen. An diesem Abend sind sie alle belegt. „Wir versuchen, die Zimmer so einzuteilen, dass die Bewohner gut auskommen“, so Měšťánek, „jung und alt passt nicht zusammen“. Viele kommen ohnehin in Gruppen, sie kennen sich, helfen sich. Wenn ein neues Nachtlager eröffnet, spricht es sich schnell herum.

„Es gibt für jeden einen Platz“
Derzeit stellt die Stadt etwa doppelt so viele Plätze für Obdachlose zur Verfügung wie vor einem Jahr, etwa 800 Betten sind es in Winterquartieren und in Nachtunterkünften, die ganzjährig geöffnet sind. Man gehe nach Bedarf vor, sagt Tomešová. Durch die Auskünfte der Sozialarbeiter von städtischen und anderen Hilfsorganisationen wissen die Koordinatoren genau, wie viele Plätze sie brauchen. Sollte es noch kälter werden, wird die Zahl steigen, dann werde die Stadt auch weitere Plätze zur Verfügung stellen, so Tomešová. „Es gibt für jeden einen Platz, der einen möchte.“ Es wollen aber nicht alle, auch bei Temperaturen weit unter Null nicht.

Dem städtischen Sozialdienst CSSP zufolge gibt es in Prag etwa 4.000 Obdachlose, von denen rund 1.500 auf der Straße leben. Diejenigen, die auch im Winter nicht in einer städtischen Einrichtung übernachten, wollten sich meist ihre Freiheit bewahren oder ihre Hunde nicht allein lassen, meint  Tomešová, denn Tiere seien auch in den Winterquartieren nicht erlaubt. „Wir können niemanden zwingen, in einer Unterkunft zu übernachten“, sagt die stellvertretende Leiterin des Sozialdienstes. Dass in Prag immer wieder Menschen im Winter auf der Straße erfrieren, liegt ihrer Meinung nach nicht daran, dass die Stadt nicht genügend unternehme.

Nach ihrer Ankunft in Hostivař ziehen sich die meisten Klienten gleich zurück. Ein Grüppchen steht vor der Tür und raucht, ab und zu holt sich jemand Tee oder fragt nach dem Weg zur Toilette. Dann wird es bald still in den Zimmern, um 22 Uhr ist Bettruhe. „Wir sind nicht ganz so streng, es geht vor allem darum, dass niemand gestört wird“, sagt der Leiter der Einrichtung. Die Nächte verliefen ruhig, weil die Menschen sehr müde seien und froh, im Warmen schlafen zu können. „Die Probleme halten sich in Grenzen, die Leute schätzen diese Krisenunterkunft sehr“, so Měšťánek. Ausschlafen können sie in Hostivař allerdings nicht. Wie in den anderen Unterkünften werden sie um 6 Uhr von den Sozialarbeitern geweckt, bis 7 müssen sie das Nachtquartier verlassen. „Manche bleiben gerne noch ein paar Minuten liegen“, sagt der Leiter der Einrichtung, „aber die meisten sind es gewohnt, früh aufzustehen.“