Zurück in die Gegenwart

Zurück in die Gegenwart

Vor 70 Jahren wurden Tausende aus Brünn vertrieben. Beim „Marsch der Versöhnung“ gingen am Wochenende Tschechen, Deutsche und Österreicher gemeinsam in die andere Richtung

3. 6. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

Um 22 Uhr standen sie an der Ecke des Mendel-Platzes. Frauen mit Säuglingen im Arm. Alte und Kinder, wenige Männer. Sie trugen weiße Stoffbinden mit einem schwarzen „N“. Weil sie „Němci“, Deutsche waren, sollten sie die Stadt Brünn noch in den kommenden Stunden verlassen. Zu Fuß in Richtung Österreich, 32 Kilometer bis Pohořelice und von dort oft noch weiter. Ohne Essen, ohne Wasser, ohne Rast.

Genau 70 Jahre später sind es Hunderte, die sich in Pohořelice versammeln. Tschechen, Deutsche und Österreicher, Menschen mit grauen Haaren, Schüler und Studenten. Sie sind gekommen, um an den sogenannten „Brünner Todesmarsch“, die Vertreibung der Deutschen aus Brünn am 30. Mai 1945 und den folgenden Tagen, zu erinnern. Zum ersten Mal unterstützt auch die Stadt die Gedenkveranstaltung, zum ersten Mal sind so viele Menschen gekommen. Und zum ersten Mal laufen sie nicht auf dem Weg der Vertriebenen von Brünn nach Süden bis Pohořelice, sondern in die entgegengesetzte Richtung.

„Wir kehren zurück, weil wir das Thema wieder in die Gegenwart bringen wollen“, sagt Organisator Jaroslav Ostrčilík, ein 32-jähriger Tscheche, der in Österreich gelebt und in Brünn Germanistik studiert hat. Vor zehn Jahren habe er sich geärgert, dass sich niemand in der Stadt für das Thema interessierte. Acht Mal schon marschierte er mit einer kleineren Gruppe am Jahrestag nach Pohořelice. „Wir wollen darüber reden, wir wollen, dass die Ereignisse aufgearbeitet werden“, so Ostrčilík. Dass das auch die Stadt Brünn in dieser Deutlichkeit sagt, ist neu. Die Stadtregierung und die Stadtverordneten unterzeichneten kürzlich – gegen die Stimmen der Kommunisten – eine Erklärung, in der sie die Geschehnisse „aufrichtig bereuen“.

Verständnis für Vertreibung

Für Andrea Muliar war diese Erklärung ein positives Zeichen. Zum „Marsch der Versöhnung“ ist sie mit ihrer Schwester aus Österreich gekommen. Ihre Mutter war 22 Jahre alt, als sie im Mai 1945 von Brünn nach Pohořelice gehen musste. „Sie hat immer gesagt, sie konnte es verstehen, für das was die Deutschen den Tschechen angetan haben.“ Aus dem Lager in Pohořelice entkam Muliars Mutter mithilfe ihres Schwagers. Er brachte sie erst zurück nach Brünn, später zog sie über Umwege nach Wien. Die heute 62-jährige Tochter fühlt sich als Österreicherin, „auch wenn die echten Wiener das anders sehen“. Ihre Mutter sei gleich nach der Grenzöffnung wieder in ihre Heimatstadt gefahren, um Freunde zu besuchen. „Richtig aufgeregt hat sie sich nur, wenn man sie als Sudetendeutsche bezeichnet hat“, sagt Muliar, die aus einer jüdischen Familie stammt.

Nun lässt sie mit etwa 300 anderen Teilnehmern den Gedenkort in Pohořelice hinter sich – eine Wiese mit wenigen kleinen Steinkreuzen, die heute zum südlichen Industriegebiet gehört. Wie viele Menschen im Lager hier und auf dem Weg von Brünn nach Österreich starben, ist noch immer umstritten. Etwa 20.000 Menschen sollen am 30. Mai und in den folgenden Tagen aus Brünn vertrieben worden sein, Historiker sprechen von 1.700 bis zu 5.000 und mehr Todesopfern.

Eine der Überlebenden ist Barbara Edith Breindl. Sie wurde 1939 im von den Nationalsozialisten besetzten Falknov nad Ohří (Falkenau an der Eger), dem heutigen Sokolov, geboren. Mit ihrer damals hochschwangeren Mutter und zwei Geschwistern wurde sie im Mai 1945 aus Brünn vertrieben. Zum Gedenkmarsch hat sie sich ein weißes Stück Stoff mit schwarzem „N“ angeheftet. Weshalb die Familie auf einem Lastwagen aus der Stadt nach Pohořelice gebracht wurde, weiß sie bis heute nicht. „Vielleicht lag es daran, dass tschechische Cousins meiner Mutter im Nationalausschuss waren. Aber wahrscheinlich hatten wir einfach Glück, dass wir nicht zu Fuß gehen mussten“, sagt die 76-Jährige, die keine eigenen Erinnerungen mehr an die Ereignisse hat. „Ich fühle mich nicht traumatisiert. Meine Mutter hat sich wohl pädagogisch klug verhalten und uns Kindern immer rechtzeitig die Augen zugehalten.“ Ob ihre Mutter und ihre Tante die Erlebnisse jemals verarbeiten konnten, bezweifelt Breindl. Und sie bereut, dass sie nicht früher darüber mit ihnen gesprochen hat. „Erst habe ich nicht nachgefragt und später dann war meine Mutter dement.“ Sich selbst bezeichnet Breindl als „deutsche Mährerin“. Seit einigen Jahren lebt sie auch wieder in Brünn, der Stadt, die sie ihre „Heimat“ nennt.

Jahre des Schweigens

Etwas langsamer ist Jiří Neužil unterwegs. Er war zehn, als der Krieg zuende war und ist heute einer der ältesten Teilnehmer des Gedenkmarsches. „Da hinten im Kirchturm haben sich die Deutschen versteckt. Als die Russen über das Feld dort kamen, haben sie alle erschossen“, erzählt er zwischen den Ortschaften Ledce und Rajhrad, etwa auf halber Strecke zwischen Pohořelice und Brünn. Er erinnert sich noch gut an die Soldaten, die in den Dörfern gekämpft haben, aber nicht an den Todesmarsch, „weil die Kommunisten das verschwiegen haben“, wie der 80-Jährige sagt. Erst nach und nach habe er etwas davon erfahren, in den vergangenen 25 Jahren alles gelesen, was er über die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden habe. Von der Gedenkveranstaltung habe er in der Kirche gehört, das Bistum machte darauf aufmerksam. „Ich wusste sofort, dass das etwas für mich ist. Ich glaube, dass es keinen anderen Weg gibt als den der Versöhnung.“

Die meisten Tschechen, die am Gedenkmarsch teilnehmen, sind deutlich jünger. Der Brünner Miroslav Frost zum Beispiel, ist gekommen, um die Aktion zu unterstützen. Die Erklärung der Stadtregierung bezeichnet er als „Schritt in die richtige Richtung“. Seine Generation sei die erste, die mit Abstand auf die Ereignisse blicken könne, meint der 31-Jährige, dessen deutscher Urgroßvater 1945 vertrieben wurde. Ähnlich äußern sich Veronika Blahušová und Jitka Unčovská, 26 und 30 Jahre alt. Als Enkelinnen derer, die den Krieg miterlebt haben, wollen sie „ein Zeichen der Versöhnung setzen“.

Sichtbare Narben

Während die meisten offiziellen Vertreter sich dem Gedenkmarsch erst kurz vor Ende in Brünn anschließen – darunter der Brünner Oberbürgermeister Petr Vokřál (ANO), der deutsche Botschafter Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven und sein österreichischer Amtskollege Ferdinand Trauttmansdorff sowie der oberste Repräsentant der Sudetendeutschen Bernd Posselt – , legt der Brünner Politiker Jan Hollan den ganzen Weg barfuß zurück. „Ohne Schuhe ist es einfach bequemer“, sagt der 59-Jährige, der schon mehrmals an der Veranstaltung teilgenommen hat. „Sonst waren wir 20, 30 Leute, ans Ziel ist manchmal nur eine Handvoll gekommen.“ Wie sein Sohn Matěj, stellvertretender Oberbürgermeister, engagiert sich auch Jan Hollan für die Partei Žít Brno. Noch immer seien die Folgen der Vertreibung der deutschsprachigen Bewohner in einigen Vierteln zu sehen, meint Hollan. Sie seien zu Ghettos geworden, in denen fast ausschließlich Roma lebten. Die Politik habe diese Entwicklung lange unterstützt, weil sie nichts mit den Vierteln anzufangen wusste. „Erst jetzt wird versucht, diese Struktur zu durchbrechen“, so der Brünner, der selbst in einem Haus wohnt, das vor 1945 einer deutschen Familie gehörte. Dass die Erinnerung an den sogenannten Todesmarsch in den vergangenen Jahren wieder ins Bewusstsein rückt, ist seiner Meinung nach auch der Schriftstellerin Kateřina Tučková zu verdanken, die davon in ihrem Roman „Vyhnání Gerty Schnirch“ („Die Vertreibung der Gerta Schnirch“) erzählt.

Auf den letzten Kilometern hat auch Tučková sich der Prozession angeschlossen. Als sich die Menschenmenge gegen 18 Uhr dem Mendel-Platz nähert und mit Glockenschlägen von der Stadt begrüßt wird, kann die 34-Jährige ihre Freude kaum zurückhalten. „Gerta würde mit Sicherheit weinen vor Rührung“, sagt sie über ihre Protagonistin. Die Stadt habe sich für das Thema geöffnet, glaubt Tučková, auch wenn sie bei Lesungen immer wieder Anfeindungen erlebe. „Erst gestern hat mich jemand beschimpft und gedroht, mich anzuzeigen.“ Ihre Meinung werde sie deswegen aber nicht ändern, versichert die Schriftstellerin: „Ich glaube wirklich, dass die Vertreibung eine Ungerechtigkeit war.“