„Zuversicht in die Zukunft“
Weihnachtsbotschaft

„Zuversicht in die Zukunft“

Die Geburt Jesu ist größer als jede aktuelle Situation, sagt Markus Meckel. Als Pfarrer und letzter DDR-Außenminister hatte er viele Kontakte in die ČSSR

22. 12. 2020 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Zachary Olson

PZ: Im Dezember wurden Sie positiv auf Covid-19 getestet. Wie geht es Ihnen, wie kommen Sie durch die Krankheit?
Markus Meckel: Ich hatte alle Symptome, habe aber kaum noch Husten und alles gut überstanden. Ich bin auch nicht mehr in Quarantäne.

Sie waren und sind viel unterwegs. Hatten Sie in diesem Jahr große Sorge, dass Sie sich anstecken könnten?
Ich war zuletzt eben gerade nicht mehr viel unterwegs, weil das in Corona-Zeiten schwierig war, also auch viel weniger im Ausland als normalerweise – und es hat mich trotzdem erwischt (lacht). Man muss immer damit rechnen, es kann ja in jedem Supermarkt passieren. Ich weiß bis heute nicht, woher meine Ansteckung kam.

Trotz Corona bot das Jahr 2020 reichlich Anlass für Rückblicke. Vor genau 350 Jahren starb Johann Amos Comenius. „Von Geburt ein Mähre, der Sprache nach ein Böhme und von Beruf ein Theologe“ sagte er über sich selbst. Steht dem evangelischen Theologen Markus Meckel der Theologe Comenius noch nahe?
Ich halte ihn für eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Tatsächlich sind wir uns im theologischen wie im politischen Denken ähnlich. Er war international sehr engagiert, gehört in die reformatorische Zeit und hat vieles von dem vorweg gedacht, was später passiert ist. Er hatte als Böhme auch ein Nationalbewusstsein, wie man heute sagen würde. Dies jedoch in einem europäischen Geist, er hat sich an verschiedenen Stellen für Versöhnung eingesetzt und war an Friedensverhandlungen beteiligt. Insofern gebührt ihm hohe Achtung. Dazu kommt sein Engagement in grundlegenden Bildungsfragen, die er als wesentliche Voraussetzung für einen gestaltenden vernünftigen Glauben ansah. Auch dafür war er ein moderner Vordenker. Theologie und Pädagogik waren für ihn eng miteinander verbunden, gerade aus seinem theologischen Denken heraus resultierte pädagogische Anstrengung. Eine wesentliche Botschaft, dies auch heute noch zusammenzuhalten.

Gedenktafel für Comenius in Herborn | © Oliver Abels, CC BY 2.5

Zurückgeblickt wurde in diesem Jahr auch auf 30 Jahre Deutsche Einheit. Als letzter DDR-Außenminister waren Sie vollauf mit dieser Aufgabe beschäftigt. Wie standen Sie persönlich zur Einheit?
Das war anfangs nicht die Frage. Wie Václav Havel und die Charta 77 in der Tschechoslowakei sind auch wir in der DDR zunächst vor allem für mehr Demokratie eingetreten. Wir wollten endlich ein selbstbestimmtes Leben führen können und wehrten uns deshalb gegen die Diktatur. Im Frühjahr 1989 war eine Perspektive auf die deutsche Einheit als unmittelbares politisches Ziel überhaupt noch nicht absehbar. Den 9. Oktober habe ich dann mit mehreren tausend Demonstranten am Dom in Magdeburg erlebt. Als dort nicht geschossen wurde, obwohl Truppen direkt an der Elbe standen, war ich überzeugt davon, dass wir es mit der Demokratie schaffen werden. Damit hatte für mich auch die Mauer ihren Schrecken verloren, denn mit einer Demokratie in der DDR, also vorerst zwei demokratischen deutschen Staaten, wäre sie absurd und obsolet geworden.

Spätestens mit dem Mauerfall stellte sich jedoch die Einheitsfrage.
Als die Mauer am 9. November fiel, war ich ebenfalls in Magdeburg, um die regionale Gründung unserer SDP-Partei vorzubereiten. Als ich die Bilder sah, sagte ich zu meiner Frau, dass ab sofort alles komplizierter würde. Denn mir war sofort klar, dass sich die Prozesse der Demokratisierung und der Perspektive hin zur deutschen Einheit überhaupt nicht mehr trennen ließen. Um die deutsche Einheit zu erreichen, mussten wir jedoch erst einmal eine demokratisch gewählte und legitimierte Regierung in der DDR haben. Nur sie konnte für die DDR-Bürger schließlich die Einheit verhandeln.

Meckel als Außenminister und Vizechef der SPD im März 1990 | © Bundesarchiv

Als letzter DDR-Außenminister starteten Sie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gemeinsam mit Tschechoslowaken und Polen eine Initiative, um die KSZE als gesamteuropäisches Sicherheitssystem weiterzuentwickeln. Dazu gab es auch ein Treffen in Prag, doch diese Initiative scheiterte. Wie enttäuscht waren Sie darüber?
Vollständig gescheitert ist sie ja nicht. Denn was in der Charta von Paris nach der deutschen Einheit beschlossen wurde, hat vieles von dem übernommen, was wir gemeinsam mit Tschechoslowaken und Polen ausgearbeitet hatten. Es wurden – wie wir auch vorgeschlagen hatten – verschiedene Institutionen geschaffen, und sogar eine parlamentarische Versammlung der KSZE. Nicht erreicht wurde, dass diese Institutionen zu einem verbindlichen System für internationale Sicherheit wurden. Unser großes Ziel war, die KSZE zu einer regionalen Unterorganisation der UN zu machen. Doch dies machten die großen Staaten im Westen nicht mit, allen voran die Amerikaner. Sie fürchteten, dass die NATO dadurch an Bedeutung verlieren würde. Das waren Grundschatzentscheidungen, die mich durchaus enttäuschten, das kann ich nicht leugnen.

Damals arbeiteten Sie eng mit Außenminister Jiří Dienstbier zusammen. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?
Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Jiří Dienstbier war ein sehr fröhlicher und zupackender Mensch. Als klar war, dass unser Plan mit dem Ausbau und der Aufwertung der KSZE nicht funktionieren würde, hat er gemeinsam mit Václav Havel – der zunächst auch unsere Idee mittrug – ab 1992 eine Mitgliedschaft in der NATO vorangetrieben. Havel hat 1993 unterstrichen, dass diese „Partnerschaft für den Frieden“ keine Alternative zur Mitgliedschaft sein dürfe, sondern dass die Staaten Mitteleuropas das Recht haben müssten, selbst Mitglieder der NATO zu werden. Auch ich habe mich dann viele Jahre intensiv für die Erweiterung von NATO und EU eingesetzt, unter anderem als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

Jiří Dienstbier (2009) | © dablyk, CC BY-SA 2.0

Fällt Ihnen ein gemeinsames Erlebnis ein, wenn Sie den Namen Dienstbier hören?
Spontan denke ich an unseren gemeinsamen Flug von Kopenhagen nach Moskau im Juni 1990, bei dem uns sehr bewusst wurde, dass wir quasi zwischen den Zeiten lebten. Wir hatten gerade in Dänemark eine KSZE-Sitzung hinter uns, bei der es um eine Institution für eine menschlichere Zukunft ging. Und sofort danach waren wir auf dem Weg in die Sowjetunion zur letzten Sitzung des Warschauer Paktes, der für uns keine Zukunft als Institution haben sollte, den wir aber für einen Übergang brauchten, um die Abrüstung von Waffensystemen und vor allem auch von Truppen zu erreichen. Das war eine ebenso fröhliche wie spannende Situation.

Und Jiří Dienstbier hat sich während des Fluges zur Feier des Tages ein Pilsner aufgemacht …?
Daran kann ich mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber er war tatsächlich ein guter Biertrinker, keine Frage. Ich sage wiederum, dass das Leben seit jener Zeit schöner ist, weil ich seitdem einen guten Wein trinken kann.

In diesem Jahr erschienen auch Ihre Memoiren mit dem Titel „Zu wandeln die Zeiten“. Darin bezeichnen Sie Prag trotz vieler Reisen in viele Städte als Ihre Lieblingsstadt. Was macht für Sie den besonderen Reiz Prags aus?
Das hat auch mit meiner Jugend zu tun, in der ich diese Stadt kennengelernt habe. Ich bin oft dorthin getrampt. Die historische Wucht Prags hat mich schon damals überwältigt. Ich habe mich immer für historische Fragen interessiert, und in Prag kann man Geschichte gleichsam atmen, sie begegnet einem ja auf Schritt und Tritt. Prag ist für mich ein Modell einer europäischen Stadt und einer Geschichte, die viele im Westen schlichtweg vergessen haben. Dabei liegt Prag westlicher als Wien. Dies bewusst zu machen ist mir auch ein persönliches Anliegen. Fasziniert hat mich zudem die Entwicklung der Stadt nach 1989. Wobei sicher auch die Menschen dort den Reiz Prags ausmachen.

Blick auf die Prager Altstadt | © APZ

Sie fühlten sich Prag zudem durch den Prager Frühling von 1968 verbunden, weil er für Sie als Schüler eine Zeit großer Hoffnung war. Warum eigentlich: Hofften Sie wie viele DDR-Bürger auf einen besseren Sozialismus – oder auf gar keinen Sozialismus mehr?
In der Zeit um 1968 hoffte man vor allem darauf, dass ein Krieg verhindert und dass es keinen militärischen Aufprall von Ost und West geben würde. Das war das oberste Ziel. Die zentrale Frage im Prager Frühling war ja, dass aus dem sozialistischen System heraus ein Weg hin zu mehr Demokratie und Freiheit aufgezeigt wurde. Man konnte plötzlich den Sozialismus als eine gerechtere Gesellschaft denken. Die Hoffnung war also, dass durch den Prager Frühling mehr Freiheit und Gerechtigkeit möglich würden. Das fand mit dem Einmarsch [von Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968, Anm. PZ] dann leider sein abruptes Ende.

Obwohl Sie während des Prager Frühlings an keinen politischen Aktionen beteiligt waren, durften Sie trotzdem nicht die Abiturklasse besuchen. War der Prager Frühling ein entscheidender Auslöser dafür, dass Sie schon in den 1970er Jahren oppositionelle politische Arbeit in der DDR leisteten, bevor Sie 1989 die SDP in der DDR mitgründeten, den Vorläufer der SPD-Ost?
Ich war damals 16 Jahre alt und ging ab dieser Zeit sowieso wacher durch das Leben. Der Prager Frühling gehört einfach unmittelbar zu meinem politischen Erwachen. Es hielt bei mir ein Leben lang an, mit dem Einsatz für mehr Gerechtigkeit, für demokratische Strukturen und eine mögliche Gestaltung der Gesellschaft. Und mit dem Eintreten für meine eigenen Positionen – auch aus der Erfahrung heraus, dass ich dafür abgestraft wurde und die Schule verlassen musste.

Mit Prag verband Sie nach eigenem Bekunden auch die Charta 77. Allerdings bekamen Sie erst sehr spät Kontakte in die ČSSR. Warum eigentlich – und wie verliefen diese Kontakte zu Tschechen?
Ich hatte kirchliche und ökumenische Kontakte in die ČSSR durch meinen Vater. Die EKBB-Kirche in der Jungmannova war für mich eine Anlaufstelle in Prag. Aber ich hatte leider keine persönlichen Kontakte zur Charta 77. Solche Kontakte konnten ja nur über andere vermittelt werden, auf der Straße gab sich ja keiner als kritischer Mensch und Sympathisant einfach so zu erkennen. Ich besaß von einem Freund die Adresse eines Pfarrers in Prag, Alfréd Kocáb, aber ich traf ihn nie an. Er hatte die Charta unterschrieben und durfte daraufhin nicht mehr in der Kirche arbeiten. Das war ein wesentlicher Unterschied, wer in der ČSSR in der Opposition war, verlor sofort seinen Beruf. Wir in der DDR konnten dagegen den institutionellen Rahmen der Kirche für unsere oppositionelle Tätigkeit vielfältig nutzen – in der ČSSR damals völlig undenkbar. Erst nach 1990 traf ich Alfréd Kocáb bei einer Podiumsdiskussion in Prag und konnte ihm erzählen, dass ich seine Adresse schon seit Jahren in meiner Tasche hatte, wenn ich nach Prag fuhr.

In den achtziger Jahren klaute Ihnen die Stasi vor der Tür eine Tasche mit Literatur, unter anderem von Jiří Hájek, dem Sprecher der Charta 77. Wie inspirierend waren solche Schriften für Sie in der Oppositionsarbeit?
Wir suchten natürlich krampfhaft nach jeder Anregung. Und dies sollte nicht nur Literatur aus dem Westen sein. Kontakte nach Polen, in die ČSSR und nach Ungarn waren mir ausgesprochen wichtig, ich bin schon seit Ende der sechziger Jahre in all diesen Ländern gewesen und habe sie regelmäßig besucht. Gewissenhaft sammelte ich Adressen von Menschen, die ich kennengelernt hatte oder die mir empfohlen worden waren. Dies war für uns der zugängliche Teil Europas, dessen Geschichte zudem hoch spannend war. Ebenso, dort Menschen kennenzulernen, die aus dieser Geschichte wie auch aus anderen Traditionen kamen und selbst ein freies Denken pflegten.

Alfréd Kocáb (1925-2018) | © vons.cz

Noch einmal zurück zu Corona: Es gibt Menschen, die dieses Jahr 2020 als nicht ganz so schlimm empfinden, weil es die Gelegenheit für eine Rückbesinnung auf wahre Werte und Entschleunigung bietet. Sehen Sie in dieser Zeit auch eine Chance – vielleicht sogar zu nachhaltigen Veränderungen?
Ich glaube nicht, dass es zu nachhaltigen Veränderungen kommen wird. Aber einmal auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, kann auch hilfreich sein. Nämlich als Gelegenheit zur Besinnung, zur Bildung von Perspektiven und Konzeptionen – und die sollte man nutzen.

Trotzdem gehen viele Tschechen und Deutsche wegen des Virus mit all seinen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen mit Unsicherheit und sogar Angst ins Jahr 2021. Was geben Sie ihnen – als evangelischer Seelsorger – mit auf den Weg in diese Weihnachtstage?
Eine wichtige Botschaft ist: Die Friedensbotschaft von Weihnachten ist nicht gebunden an äußere Bedingungen! Die Geburt Jesu und Jesus Christus selbst ist eine Hoffnung für die Menschen, für innere Befreiung und für die Gestaltung von Freiheit in dieser Welt – unabhängig von konkreten Situationen. Und auch unabhängig von der Größe des Familienfestes zu Weihnachten. Vielmehr schafft sie Zuversicht in die Zukunft und in die Kraft Gottes, die nicht an unsere kleine Ohnmacht gebunden ist. Wir können derzeit vielleicht manches weniger tun als wir gerne tun würden. Aber wir können aus dieser Zuversicht heraus leben. Und ich bin sicher, dass diese Krise überwunden wird, damit wir gemeinsam die großen Fragen unserer Welt – wie Klimawandel, Migration, Krieg und Frieden – besser lösen als es uns bisher gelungen ist.

Markus Meckel | © Estnische Präsidentschaftskanzlei, CC BY-SA 3.0

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