Zwei ungleiche Nachbarn
Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 2: Kleinseitner Brückentürme
22. 6. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Fotos: O. Vaněk und J. Füllenbach
Der Blick von der Karlsbrücke auf die beiden Kleinseitner Brückentürme, die Turm und Kuppel der Nikolauskirche im Hintergrund einrahmen, ist weltberühmt. Doch nur wenige wissen, warum sich die beiden Brückentürme in ihrer Höhe so sehr unterscheiden. War der Stadt das Geld ausgegangen? Oder wurde der kleinere Turm in einem Krieg beschädigt und nicht mehr zu alter Höhe aufgerichtet?
Tritt man näher, sind die unterschiedlichen Baustile leicht zu erkennen. Während der größere der beiden Türme offenbar dem gotischen Altstädter Brückenturm nachempfunden wurde, ist sein kleineres Gegenüber stark vom Wandel der Zeiten gezeichnet. Die gedrungene Bauweise, das tiefer liegende Fundament und freigelegtes romanisches Mauerwerk, aber auch die enge Verbindung mit der angrenzenden Bebauung weisen darauf hin, dass er der ältere der beiden Türme ist. Dagegen zeugen einige erhaltene Sgraffiti und die Renaissancegiebel, die die früheren Zinnen ersetzten, von späteren Umbauten oder Verschönerungen.
Tatsächlich gehört der kleinere Turm, der sogenannte Judithturm, zu den ältesten erhaltenen Baudenkmälern Prags. In den Chroniken wird er erstmals 1249 erwähnt, doch nimmt man an, dass er um 1170, in den letzten Jahren der Herrschaft Vladislavs II., erbaut wurde. Auf die gleiche Zeit wird auch der Bau der Vorgängerin der Karlsbrücke, der Judithbrücke, datiert. Sie war die erste Steinbrücke Prags und nach der Steinernen Brücke in Regensburg die zweite in Mitteleuropa. Gemauerte Brücken galten zu dieser Zeit nördlich der Alpen noch als technische Wunderwerke. Namensgeberin für Brücke und Turm war Vladislavs Gemahlin Judith von Thüringen. Insbesondere um die Brücke soll sich Judith persönlich verdient gemacht haben, indem sie durch ihre Interventionen immer wieder für Fortschritte beim Bau sorgte.
Wenn man von der Karlsbrücke auf die beiden Türme mit den zwei Torbögen dazwischen stößt, fällt auf, dass Tor und Brücke nicht im rechten Winkel zueinander stehen. Die Abweichung ist beträchtlich: Die Brücke bildet mit dem Bauwerk von Tor und Türmen einen Winkel von ungefähr 110 Grad. Auch das hängt mit der verschwundenen Judithbrücke zusammen. Sie nahm ihren Ausgang etwa im rechten Winkel vom Tor und führte in einem leichten Bogen nördlich der Karlsbrücke zur anderen Seite der Moldau, wo sie unter dem Kreuzherrenspital auf das Altstädter Ufer traf. Dort kann man bei günstigem Wasserstand noch heute einen Torbogen der Judithbrücke betrachten. Auf dem Grund der Moldau sind Reste der Pfeilerfundamente erhalten.
Nachdem die Judithbrücke bei einem Jahrhunderthochwasser im Frühjahr 1342 größtenteils zerstört wurde, verbaute man viele Quader in der ab 1357 errichteten gotischen Karlsbrücke; andere Steinblöcke sind in einigen Häusern auf der Kleinseite als Teile von Steinfußböden, Treppen und Kellergewölben zu finden.
Die östliche, der Altstadt zugewandte Seite des Judithturms schmückte früher ein Kunstwerk, das nur zum Teil erhalten ist: ein steinernes Relief, das nahezu in Lebensgröße eine Person auf einem Thron sitzend und eine zweite, jüngere Gestalt vor dem Thron kniend zeigt, wie sie etwas empfängt oder übergibt. Nach seiner Restaurierung wurde das Relief 1938 im Vorzimmer zum ersten Stockwerk des Judithturms in einer Nische hinter Glas untergebracht. Es handelt sich dabei um die bedeutendste romanische Plastik Böhmens. Weil sie stark beschädigt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, welche Szene dargestellt ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Kaiser Barbarossa, der dem böhmischen Herzog Vladislav II. im Jahr 1158 auf dem Reichstag zu Regensburg die Königswürde verleiht, indem er ihm die Krone überreicht. Gruppen dürfen die Steinplastik nicht besichtigen. Die schlechten Lüftungsverhältnisse lassen leicht Feuchtigkeit aufkommen, die das ohnehin brüchige Relief noch mehr gefährden würde.
Das niedrige Gebäude, das in östlicher Richtung unmittelbar an den Judithturm anschließt, diente als Zollhaus, bis sich die vier selbständigen Prager Städte Hradschin, Kleinseite, Altstadt und Neustadt 1784 zusammenschlossen. Mit den beiden Türmen und dem Tor war es Eigentum der Altstadt – sehr zum Ärger der Kleinseitner Bevölkerung, die natürlich gerne selbst von den Zolleinnahmen profitiert hätte.
Nach 1784 wurde das Zollhaus überflüssig und ging zusammen mit dem Judithturm vorübergehend als Wohnkomplex in private Hände über. Seit 1893 gehörte das Tor mit beiden Türmen wieder der Stadt, die 1927 einige Stockwerke des Judithturms dem „Klub für das alte Prag“ vermietete und ihm im Jahr darauf einen Teil des ehemaligen Zollhauses verkaufte. Der Klub betreibt dort inzwischen eine auf Literatur über Prag spezialisierte Buchhandlung und hat die Räume im Judithturm nach 1989 für seine Zwecke renoviert. Dabei wurde auch eine Beobachtungszelle der Geheimpolizei beseitigt, die Anfang 1970 dort eingebaut worden war, um das rege Hin und Her auf der Brücke besser kontrollieren zu können.
Den höheren Brückenturm ließ König Georg von Podiebrad (Jiří z Poděbrad) ab 1464 errichten. An der Stelle hatte zuvor ein romanischer Turm gestanden, der mit dem Judithturm durch einen Torbogen verbunden war. Der heutige Turm ist der jüngste Teil der Karlsbrücke und ein wertvolles Zeugnis der nach-hussitischen Prager Gotik. In die westliche und östliche Fassade sind Nischen eingelassen, die wie beim Altstädter Brückenturm für Skulpturen vorgesehen waren. Es ist jedoch nicht bekannt, ob die Fassaden jemals Landesheilige oder böhmische Herrscher schmückten.
In 26 Metern Höhe befindet sich eine Galerie, auf der einst Turmwächter nach Feuersbrünsten Ausschau hielten. Heute können Besucher dort die Aussicht auf die Stadt genießen: Burg, Kleinseitner Dächer und die Karlsbrücke mit der Altstadt dahinter bieten sich wie auf dem Präsentierteller dar. In der Ferne beeindruckt der Vyšehrad mit der Peter- und Paul-Basilika und mit einer dicht gestaffelten Reihe von Moldaubrücken darunter.
Beide Türme sind durch zwei Spitzbögen miteinander verbunden. In früheren Zeiten konnte man den Durchgang durch zwei schwere Eichenholzflügel versperren und bei Gefahr zusätzlich ein Eisengitter herunterlassen. Die Schutzvorrichtungen sind nun entfernt, nur zwei senkrechte Schlitze in den Mauern und zwei steinerne Scharnierköpfe in etwa fünf Metern Höhe zeigen an, wo Gitter und Torflügel angebracht waren.
Beim Aufgang zur Galerie kann man im ersten Stock auf einen schmalen Gang hinter den Zinnen ins Freie treten und das Menschengewimmel auf der Karlsbrücke beobachten. Außerdem ist von dort noch besser als von der Galerie aus zu sehen, wie die zahlreichen Türme der Altstadt aus dem Meer der roten Dächer herausragen. Der Gang führt schließlich zu einer Holztür, durch die man früher den Judithturm betreten konnte.
Malostranské mostecké věže. November bis Februar 10–18 Uhr, März und Oktober 10–20 Uhr, April bis September 10–22 Uhr, Eintritt: 90 CZK (ermäßigt 65 CZK, Familien 300 CZK)
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