Zwischen den Betonwüsten
Auf der Moldau-Insel Štvanice wird ein altes Ballhaus zur Heimat einer jungen Theaterbühne
11. 12. 2014 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Peter Huch
Der Prager Stadtteil Holešovice gilt trotz – oder gerade wegen – seiner industriellen Prägung schon länger als das aufstrebende Viertel der tschechischen Metropole. Hier gibt es in unmittelbarer Zentrumsnähe noch großzügige Brachflächen, Lokalitäten und Areale, die für Künstler zu benutzen sind, ohne dass sie Proteste von Nachbarn zu befürchten hätten.
So eröffnete im ehemaligen Bürogebäude einer Elektrizitätsgesellschaft an der Metro-Station Vltavská der Klub „Podník“, der gleichermaßen für Konzerte, Filmvorführungen und kreative Motto-Partys genutzt wird. Nur ein paar Meter weiter, auf dem weitläufigen Marktgelände, widmet sich unter dem Titel „Jatka78“ ein Kulturzentrum dem modernen Zirkus und experimenteller Performancekunst – erst Anfang November wurden hier die ersten Besucher empfangen.
Ungefähr zur gleichen Zeit nahmen zwei Theatergruppen an einem ganz besonderen Ort ihre neue künstlerische Heimat in Betrieb: die Vila Štvanice auf der gleichnamigen Moldau-Insel. Ganz einfach zu erreichen ist sie nicht, der neugierige Besucher hat die Wahl zwischen einer düsteren Unterführung und der mehrspurigen, viel befahrenen Uferstraße. Ist die Überquerung einer dieser Hauptverkehrsachsen einmal gelungen, eröffnet sich auf halber Höhe der Hlávka-Brücke (Hlávkův most) erstmals der Blick auf die klassizistische Villa. Der repräsentative Bau lockte im 19. Jahrhundert als Ballhaus „Růžodol“ ein tanzfreudiges Publikum an.
Der Straßenlärm ist schon fast vergessen, wenn man die paar Treppenstufen von der Brücke hinab steigt und die Villa schließlich aus der Nähe betrachtet. Das Gebäude wirkt geheimnisvoll und sieht so aus, als wäre es aus der Zeit gefallen. Mit seinen erleuchteten Fenstern auf der ansonsten dunklen, unbelebten Insel und zwischen den Betonwüsten an den Flussufern in Karlín und Holešovice gelegen, behauptet es sich als charmanter architektonischer Gegensatz.
Dies ist der perfekte Ort, den Golem wieder auferstehen zu lassen, dachte sich Theaterregisseur Ivo Kristián Kubák und inszenierte hier bereits 2013 mit seiner Kompanie „Tygr v tísni“ eine Performance des bekannten Meyrink-Romans. Das Besondere: Alle Räume, so auch der prächtige Ballsaal im Erdgeschoss, wurden zur Bühne und verwandelten sich mit Hilfe von Videoinstallationen in das Prager jüdische Ghetto um die Jahrhundertwende. Verschiedene Szenen fanden parallel zueinander statt, die Zuschauer mussten selbst agieren und wurden damit zu aktiven Teilnehmern der Inszenierung. Immersives Theater nennt sich diese Spielform, bei der sich die klassischen Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum, Bühne und Realität auflösen. Nachdem der Golem im April 2014 für weitere zehn Tage aufgeführt wurde, bemühte sich Kubák beim Magistrat um eine dauerhafte Nutzung des Gebäudes.
Zeitgenössischer Standpunkt
Als zweites Kollektiv neben dem „Tiger in Not“ (so die deutsche Übersetzung für Kubáks Theatergruppe), das vor allem aus Studenten der Theaterhochschule „DAMU“ besteht, lud Kubák „Geisslers Hofcomoedianten“ auf die Insel ein. Das junge Schauspielkollektiv belebt mit seinen Stücken Elemente des Barock-Theaters wieder. Auf den ersten Blick scheinen beide Ensembles nicht viel gemeinsam zu haben. Kristýna Šrolová steht seit mehr als zehn Jahren mit den „Hofcomoedianten“ auf der Bühne und ist so etwas wie deren Öffentlichkeitsbeauftragte. Sie führt Gäste durch das neue Haus und erklärt den vereinenden theoretischen Hintergrund der zwei Theatergruppen. „Wir beide arbeiten gerne mit alten Texten und erneuern sie von aktuellen, zeitgenössischen Standpunkten heraus“, so Šrolová. Beim Brüten über neuen Projekten helfe auch die spezielle Atmosphäre auf der Insel. „Man ist halb in der Stadt, halb in der Natur. Das Großstadttreiben ist nicht weit weg, man vergisst es aber, sobald man in unserer Bar einen Kaffee oder einen Wein trinkt.“
Kurz vor der Vorstellung ist die 31-Jährige nicht mehr ganz so entspannt und entschuldigt sich. In der Komödie „Valdštejn“, die an diesem Abend auf dem Programm steht, spielt sie den schwedischen König Gustav Adolf, der dem böhmischen Feldherren auf dem Schlachtfeld unterlag. Das historische Aufeinandertreffen wird von „Geisslers Hofcomoedianten“ kurzerhand in ein tschechisches Gasthaus verlegt. Krieg und Politik werden als Rituale inszenierter Männlichkeit im Kampf um Macht interpretiert, den man in Kleinform in jeder Kneipe finden könne, erklärt Šrolová . In der liebevoll dekorierten und beleuchteten Theaterbar geht es zum Glück eher ruhig zu. Die Stimmung ist angenehm locker und entspannt.
Abgesehen von Stücken aus den Repertoirs von „Tygr v tísni“ und „Geisslers Hofcomoedianten“ stehen in der Vila Štvanice auch Konzerte, Klub-Abende mit wechselnden DJs, Workshops sowie Gastinszenierungen auf dem Programm. Das alte Ballhaus, das in den letzten Jahren weitgehend leer stand, wird nun also, genau wie die Textvorlagen der beiden Theaterensembles, ganz neu interpretiert.
Informationen zum Programm und zum Veranstaltungsort unter www.vilastvanice.cz
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